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PrologWarten auf das Unvermeidliche... Das leise Klicken des Federhebels, der gegen die Schutzkappe drückt und das Surren des Reibrädchens über das Cer-Eisen, das den Funken erzeugt, sind neben dem permanenten Zirpen der Grillen die einzigen Geräusche, die die Stille der lauen Herbstnacht durchdringen. Er ist kein Freund der Neuen Medien, die so spielend einfach überwachbar sind. Da werden ihn seine jüngeren Berufskollegen niemals vom Gegenteil überzeugen können. Kürzlich faselte jemand von einem Tor-Netzwerk, das angeblich die Verbindungsdaten anonymisieren und den Zugang ins Internet und Darknet deutlich sicherer machen würde. So etwas benötigt er nicht. Seine Sicherheiten sind ursprünglicher. Eine davon bezeichnete Aristoteles bereits vor 2.400 Jahren in seiner Naturphilosophie als eines der vier Grundelemente, das Feuer. Er schließt die Kappe des Sturmfeuerzeugs mit dem Daumen und hält das Stück Papier mit spitzen Fingern, bis die Flamme beinahe seine Fingerspitzen erreicht. Das Hitzegefühl ist wichtig. Er hat gelernt, den Schmerz mit der Information zu verknüpfen, die ihm wie immer als Botschaft auf einem Zettel übermittelt wurde. Sein Datenspeicher ist weder ein USB-Stick noch eine Cloud. Auch hier verlässt er sich lieber auf seinen Verstand. Die Flamme erlischt endgültig, als er das Papier mit dem Schuh austritt und die schwarz-graue Asche sich mit dem feinen Kies vermischt. Das ist genug Datensicherheit, denn obwohl das verbrannte Medium inklusive der Kugelschreiberfarbe, chemisch gesehen, nachweisbar ist und sich von der Schuhsohle nicht rückstandsfrei entfernen lässt, so bleibt die eigentliche Information den neugierigen Augen Dritter verborgen. Genau genommen hätte sich sein Auftraggeber die Mühe sparen können, denn die heutige Nachricht bestätigte nur das, was er bereits selbst recherchiert und beobachtet hatte. Ihm ist klar, dass er, bedingt durch das zeitaufwendigere papierlastige Prozedere, in der Vergangenheit deutlich weniger Aufträge annehmen konnte, als einige der Kollegen. Doch das stört ihn nicht. Er lebt genügsam und hat sich schon vor über 20 Jahren eine eigene Lebensphilosophie erarbeitet. Es wäre pure Verschwendung gewesen, dies nicht zu tun, denn schließlich besitzt er einige akademische Grade. Darunter auch einen Dr. sc. phil., den er nach der Promotion an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg verliehen bekam. Das ist lange her. Ihm standen damals viele Türen offen, und das weltweit. Doch er entschloss sich einen gänzlich anderen Weg einzuschlagen, wobei "entschließen" einen freien Willen implizieren mag. Dem war definitiv nicht so, denn höchstens das Universum selbst verschuldete die Tatsache, dass er sich zur falschen Zeit am falschen Ort befand und unfreiwilliger Zeuge eines bestialischen Mordes wurde. Jetzt kann er darüber schmunzeln und sich der Ironie des Schicksals nahezu emotionslos ergeben. Doch tief in seinem Inneren verborgen, lauert die grässliche Bestie, die die Wahrheit sah und binnen weniger Stunden sein Leben völlig auf den Kopf stellte. Ein rascher Blick auf die Leuchtziffern der Armbanduhr verraten ihm, dass er nur noch eine Stunde bis zur Dämmerung warten muss. Den Chronotyp seiner Zielperson würden die Biologen wohl als extreme Lerche bezeichnen, die bereits um 5:00 Uhr morgens quietschvergnügt durchs Leben wandelt. Dann, wenn die meisten anderen noch friedlich schlummern. Heute soll die Sonne um 7:09 Uhr aufgehen. Doch das ist für die Zielperson irrelevant. Zu diesem Zeitpunkt wird sie bereits seit über einer halben Stunde tot sein, wenn alles planmäßig verlaufen ist. Und das wird es. Dafür hat er gesorgt. Zwei Reservepläne müssen genügen, schlägt der erste wider Erwarten fehl. Selbst für den schlimmsten Fall, dass man ihn kurz nach der Tat überprüfen oder gar festnehmen sollte, werden die Ermittlungsbehörden den Pass eines gewissen Philip Thaler vorfinden, einem ausgewanderten Geschäftsmann aus Neuseeland auf Urlaubsreise durch Europa. Bisher benötigte er jedoch nur zweimal in über 20 Jahren eine Alternative. Das hat er nur seiner gewissenhaften Vorbereitung zu verdanken, davon ist er überzeugt. Auch wenn ihn manche jungen Branchenkollegen belächeln und ihn hinter seinem Rücken wegen seiner pedantischen Arbeitsweise gerne Dr. P. nennen, beweisen seine bisherigen Erfolge die Art der Vorgehensweise. Er verachtet die selbstgefälligen Jungkollegen, die in den letzten Jahren aus sämtlichen Herren Ländern in die Branche drängen. Neben großspurigen Reden setzen sie vor allem auf Hi-Tech, Kaliber und Masse, statt auf Klasse. Geduld, Ausdauer, Fingerspitzengefühl und Präzisionsarbeit werden meist durch Feuerkraft und Brutalität kompensiert. Nicht in jedem Fall ein adäquater Ersatz. Dessen ist sich auch sein Auftraggeber bewusst. Für zwei Wochen Arbeit akzeptierte er, 350.000 € zu bezahlen. Seinen üblichen Tagessatz von 25.000 €, ein Betrag, der ihm durchaus angemessen erscheint, und nicht nur ihm. Womöglich wäre der Auftraggeber sogar bereit gewesen, das Doppelte auf den Tisch zu legen, angesichts der Vita der Person. Doch Gier liegt ihm fern. Für ihn zählte schon immer eine faire Forderung, für eine solide Arbeit zu stellen, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Aus einem leichten Jogging-Rucksack holt er einen in Tuch gewickelten Gegenstand und legt ihn neben sich auf die Parkbank. Er braucht kein Licht, um den Bramit auf den Lauf der Waffe zu schrauben, der man die Jahre kaum ansieht. Sie gehört zu einer der ersten Waffen, die er sich besorgte. Der russische Nagant M1895 wurde 1938 produziert und zählt zu den neueren Modellen des Revolvers, der bis 1945 gebaut wurde. Das Besondere daran ist, dass man einen Schalldämpfer verwenden kann, was bei nur wenigen Revolvern möglich ist. Er sieht die mitleidigen Blicke seiner Kollegen, die meist nur ein müdes Lächeln erübrigen, während sie ihn mit stolzgeschwellter Brust eine Walther P99Q mit Mündungssignaturreduzierer, Zubehörschiene, Laservisier und restlichtverstärktem Zielfernrohr präsentieren. Selbst das 15-schüssige Magazin erzeugt bei ihm noch keinen Neid. Sein Revolver fasst lediglich sieben Patronen, die jedoch vollauf genügen. Zwei Kugeln töten in Kopf und Herz, eine zur Sicherheit in die Leber, das war's üblicherweise. Die restlichen vier dienen als Reserve oder der unmittelbaren Verteidigung, und das alles, ohne Spuren, sprich Patronenhülsen, zurückzulassen, denn die verbleiben in der Trommel. Dabei geht es ihm nicht um die Verschleierung der verwendeten Waffe, sondern um die des Standorts des Schützen, der ohne Hülsen deutlich schwerer zu ermitteln ist. Nebenbei muss er sich keinerlei Gedanken um zufällig hinterlassene Fingerabdrücke machen. Alles Kriterien, die ein echter Profi in jedem Fall bedenken und je nach Relevanz sorgfältig gegeneinander abwägen sollte. Seine Kollegen verlassen sich allzu oft darauf, binnen kürzester Zeit eine möglichst große Distanz zum Tatort zurückzulegen. Je mehr Landesgrenzen überwunden werden, desto besser. Landet man jedoch im System der Behörden, dann verbleibt man dort und wird zukünftig verglichen. Behutsam verstaut er die Waffe in einem extra eingearbeiteten Holster unter dem Kapuzenshirt und zieht den Reißverschluss ein Stück weit nach oben. Speziell eingenähte Polster auf beiden Seiten sorgen dafür, dass er sie völlig unauffällig mit sich führen kann, selbst wenn er in der Kleidung einen flotten Sprint hinlegen müsste. Ein Lächeln umspielt seine Lippen, während er den fleckigen Lappen wieder in den Rucksack packt. Spätestens seit zwei Tagen ist er überzeugt, dass der Auftrag ein Kinderspiel werden wird. Alles läuft nach Plan, im wahrsten Sinne des Wortes. Seine Zielperson erwies sich als penibel pünktlich. Laut seinen Aufzeichnungen lagen zwischen dem täglichen Erscheinen maximal drei Minuten Differenz und das in einem Beobachtungszeitraum von zehn Tagen. Die Wartezeit überbrückt er mit Meditation, die er vor einem guten Jahrzehnt in einem laotischen Kloster erlernte. Damals befand er sich aus unterschiedlichsten Gründen in einer massiven Krise. Er stand kurz davor, alles hinzuschmeißen. Privat, beruflich und auftragsmäßig passte nichts mehr zusammen. Das reinste Desaster. Einer seiner wenigen Freunde gab ihm den Tipp, den er zunächst als weder angemessen noch zielführend wertete, bis ein weiterer Schicksalsschlag ihn zum Handeln zwang. Seufzend nimmt er die Füße hoch und begibt sich in den Lotussitz, der im Yoga als Padmasana bezeichnet wird. Er verzichtet darauf, die Sneakers auszuziehen, ebenso wie das Kapuzenshirt. Im Ernstfall will er binnen Sekunden in der Lage sein, zu handeln. Mit geschlossenen Augen beginnt er tief zu atmen, berührt mit den Zeigefingern die Daumen und legt die Hände behutsam auf die Knie. Nach wenigen Atemzügen spürt er die Entspannung einsetzen. Körper und Geist verschmelzen und verdrängen Ärger, Zweifel und Sorgen. Die ersten Vogelstimmen lösen das Zirpen der Grillen ab, während er nur noch Ohren für den eigenen Puls und die Atmung hat. Energie und Zuversicht kehren zurück, so wie er es nicht nur erwartet, sondern sich auch innigst gewünscht hat. Auf seine innere Uhr ist Verlass, die ihn eine knappe Viertelstunde vor der geplanten Tatzeit aus der Tiefenentspannung zurückholt. Es bleibt ihm genügend Zeit, den Warteplatz aufzugeben und zur tatsächlichen Startposition zu wechseln. Er wird der Zielperson entgegenjoggen. Der Weg gibt ihm durch ein ausreichendes Sichtfenster die Gelegenheit, das Aufeinandertreffen relativ genau zu kalkulieren. Sein Opfer bewies nicht nur in puncto Lauftempo äußerste Präzision, sondern auch bei der Wahl der Orte für Dehnübungen. Der vorgesehene Tatort, eine Holzbrücke mit niederem Geländer, ist durch Bäume, Buschwerk und eine sanfte Anhöhe nur schwer einsehbar. Ideal also für sein Vorhaben. Kurz zuckt ein Lächeln auf, bevor der Gesichtsausdruck in die volle Konzentration zurückkehrt. Eine Schweizer Uhr könnte nicht exakter funktionieren, als dieser Mann. In Gedanken zählt er mit und handelt unmittelbar nach acht Wiederholungen, genau dann, als die Zielperson den Fuß vom Geländer nimmt und den Lauf über die Brücke fortsetzen will. Alles geht rasend schnell. Ein letztes Mal vergewissert er sich, dass sie niemand beobachtet, bevor er mit einer fließenden Bewegung die Waffe zieht. Der Schalldämpfer macht kaum ein Geräusch. Es klingt wie kurzes Husten, als drei Schüsse Schulter, Kopf und in Höhe des Herzens den Rücken treffen. Die Schussfolge war absichtlich so gewählt und lässt das Opfer eine Rechtsdrehung vollführen, sodass er nur wenige rasche Schritte benötigt, dem Sterbenden einen finalen Stoß zu versetzen. Es gleicht eher einem harmlosen Rempler, als er mit dem Ellenbogen die Wirbelsäule des Mannes trifft. Das Einschussloch ist kaum zu erkennen, wäre da nicht ein sich rasch ausbreitender Blutfleck. Ihm bleibt der Anblick des ungläubig verzerrten Gesichts erspart, als der Körper über das Geländer in den träge dahin fließenden Fluss stürzt. Mit einem fast perfekten Kopfsprung taucht der Tote ein, sodass kaum Wasser empor spritzt. Doch selbst wenn er auf dem Bauch gelandet wäre, hätte es keinen Unterschied gemacht. Zu dieser Zeit ist er hier mutterseelenalleine, abgesehen von den unzähligen Vogelstimmen, die, jede für sich um die geräuschvolle Vormachtstellung kämpft. Der Leichnam treibt in der Mitte des Flusses und wird bald das Wehr erreichen. Wenn er sich konzentriert und das Vogelgezwitscher ausblendet, kann er in der Ferne das Tosen des Wassers hören. Dort wird der Tote in den Sog gerissen und zwischen schweren Baumstämmen zermalmt, die der Strudel noch nicht freigegeben hat. Hier rächt sich die Vorliebe des Opfers für unauffällige graue Joggingkleidung und einem blauen Sweatshirt. Er bezweifelt jedoch, ob es einen Unterschied gemacht hätte, wäre sein Zielobjekt mit Kleidung in Warnfarben unterwegs gewesen. Noch auf dem Herweg hat er sich selbst davon überzeugt, das Wehr inspiziert und den bunt zusammengewürfelten Plastik-Unrat bemerkt, der sich nicht mehr aus dem Mahlstrom befreien kann. Ein paar farbige Kleidungsstücke würden niemanden auffallen. Seelenruhig schraubt er den Schalldämpfer vom Revolver. Einmal mehr zahlt sich die Wahl der Waffe aus, denn ansonsten müsste er das Gras und Gebüsch entlang des Wegs nach Patronenhülsen absuchen und würde womöglich mehr Spuren, wie Fasern und Fußabdrücke hinterlassen, als entfernen. Obwohl er die Schüsse in kurzer Folge abgab, hatte er dabei schätzungsweise 20 Meter zurückgelegt. Eine lange Strecke, um drei kleine Hülsen zu finden, noch bevor die Sonne aufgegangen ist. Konzentriert beäugt er die Umgebung und dreht sich einmal im Kreis, während er den Revolver neben dem Schalldämpfer im Rucksack verstaut. Alles geht automatisch. Jeder Handgriff sitzt. Er könnte es ebenso mit geschlossenen Augen. Eine weitere Eigenart, die ihm, dem Dr. P., einigen Spott einbrachte. Doch die echten Profis wissen genau, dass der Rückzug den heikelsten Teil der Mission darstellt. Denn Verschwinden, ohne nennenswerte Spuren zu hinterlassen, ist nur durch sorgfältige Planung und disziplinierte Durchführung möglich. Weit entfernt am Wiesenrand entdeckt er eine Frau auf einem Fahrrad, die einen großen braunen Hund an der Leine neben sich führt. Will sie heute nicht ausnahmsweise quer über die Wiese und durch das Gebüsch fahren, so benötigt sie auf dem geschotterten Weg noch gute vier Minuten bis zur Holzbrücke. Er kennt die Frau vom Sehen und hat die Zeit bereits einige Male gestoppt. Fünf Minuten später wird er im Auto sitzen und auf dem Weg zur Unterkunft sein. Vormittags wird er die restliche Summe abholen und alles vorbereiten, damit er sich im Notfall umgehend in den wohlverdienten Ruhestand begeben kann. Dies war sein vorletzter Auftrag. Kein spektakuläres Meisterstück, aber solide Arbeit für eine angemessene Entlohnung. Er hat genug beiseitegelegt, um einen ruhigen Lebensabend verbringen zu können. Nicht hier, sondern weit entfernt. In einem Land, wo man wenige Fragen stellt, und Fremden gegenüber genauso offen ist, wie den Einheimischen. Dann wird er endlich wieder den wahren Leidenschaften frönen können, der Astronomie und Philosophie. Warum er noch einen weiteren Auftrag annahm weiß er selbst nicht so genau, denn er weicht nur ungern von einem bereits gefassten Entschluss ab. Die Frau klang verzweifelt und vertrauensvoll zugleich. Das sagt ihm zumindest die jahrelange Erfahrung. Auf die Forderung, binnen zwölf Stunden die Hälfte im Voraus bezahlen zu müssen, ging sie erst nach kurzem Zögern ein. Eine Reaktion, die ihm authentischer vorkam, als eine sofortige Zusage. Im anderen Fall hätte er wohl einen beliebigen Grund gefunden, ihr einen Korb zu geben. Vorsicht walten lassen, ist die Grundvoraussetzung für den Job, auch wenn sie das Codewort kannte. Davon wird er auch nicht beim vermeintlich letzten Auftrag abweichen. |