Ellis Nichte Lucy macht ihrem Ärger Luft...
«Stell dir nur vor, sie will mich nicht in eine Studentenbude ziehen lassen. Dabei habe ich mich schon so gefreut. Ich soll gefälligst zu Hause wohnen, denn da hätte ich ein Zimmer umsonst. Kannst du dir das vorstellen? Rebecca ist so gemein.»
«Du meinst sicherlich deine Mutter, Lucy», wiederhole ich wie eine Schallplatte, die hängt und immer wieder, die gleiche Stelle abspielt.
Mein Blick streift die Uhr neben dem Bett. 02:34 Uhr. Warum bin ich auch ran gegangen und habe sie nicht am Morgen zurückgerufen? Jedes Mal wenn ich Lucys Nummer zu ungewöhnlichen Zeiten auf dem Display sehe, bringe ich es einfach nicht übers Herz, ihren Anruf zu ignorieren. Zu tief sitzt die Angst, dass ihr etwas Schlimmes passiert sein könnte und sie dringend meine Hilfe braucht. Ich würde es nicht ertragen, wenn ihr etwas zustößt. Das ist mir bereits vor vielen Jahren klar geworden. Lucy ist ein wichtiger Teil meines Lebens, wenn nicht sogar der wichtigste. Manchmal habe ich das Gefühl, sie zu lieben, als wäre sie meine eigene Tochter.
«Ja Mutter. Tolle Mutter, die ihre Tochter zu Hause einsperrt», faucht sie so laut, dass ich das Mobilteil vom Ohr weghalten muss.
«Jetzt beruhige dich doch, vielleicht hat sie ....»
«Gar nichts hat sie», fährt mir Lucy wütend ins Wort. «Nicht einmal vernünftige Klamotten will sie mir kaufen.»
«Aber du hast doch in deinem Zimmer den kompletten Schrank voll mit so vielen tollen ...», versuche ich es erneut und bemühe mich um einen ruhigen Tonfall. Doch sie unterbricht mich abermals.
«Das hat sie auch gesagt, diese Scheinheilige. Dabei weiß sie ganz genau, dass das alles alter Plunder ist. Das Neueste ist von letztem Jahr. Das ist total mega-out.»
«Aber du hast doch nach wie vor so viele Jeans. Die kommen niemals aus der Mode.»
«Jetzt fängst du auch noch an, wie Rebecca. Weißt du denn nicht, dass es jede Saison neue Modelle gibt, die jeder sofort erkennt, der nur einen Hauch Ahnung von Mode hat?», heult sie auf.
«Mutter, sag doch bitte Mutter, wenn du von meiner Schwester sprichst. Und nein, das mit den Jeans war mir nicht bewusst», versuche ich es noch einmal.
«Ach, ich soll <Mutter> sagen. Soll ich dich vielleicht zukünftig mit <Eleonore> ansprechen?»
Der Schlag sitzt. Sie merkt sofort, dass sie zu weit gegangen ist. Für einen Augenblick herrscht eisiges Schweigen.
«Tut mir leid, Tante Elli. Ich ..., ja, ich bin gerade nur so stinksauer», sagt sie kleinlaut.
Ich seufze laut und deutlich.
«Das ist mir nicht entgangen. Na gut, Entschuldigung angenommen. Die Sache mit den Kleidern war vielleicht nicht so toll. Aber überlege dir das mit der eigenen Bude noch einmal gründlich. Klar bist du dann von zu Hause weg. Aber du musst dich ab diesem Zeitpunkt auch um alles selbst kümmern. Waschen, putzen, kochen, einkaufen, das volle Programm eben.»
«Na ich dachte, die Wäsche könnte ich nach Hause mitnehmen und kochen ....»
«Vergiss es sofort.»
Diesmal bin ich es, die sie unterbricht.
«Keine halben Sachen. Entweder rein oder raus. Das mit dem Klamottenwaschen lass ich mir noch eingehen. Aber kochen musst du schon selbst. Bude sauber halten ebenfalls.»
Ich lasse keinen Zweifel daran, dass ich es ernst meine.
«Na gut», antwortet sie zögernd. «Die Bude eilt ja nicht so. Aber das mit den Klamotten schon. Du könntest doch morgen mit mir in die Stadt gehen. Wir waren ewig nicht mehr gemeinsam shoppen.»
«Das sieht schlecht aus. Morgen bin ich früh im Büro und nachmittags holt mich Walter ab, zum Trainieren.»
«Ach so nennt man das heute?», bemerkt sie schnippisch. «Walter holt dich doch nur ab, damit er mit dir in die Kiste springen kann.»
«He, junge Dame, nicht so vorlaut», versuche ich, streng zu klingen, obwohl ich schlagartig ein erregendes Prickeln zwischen den Beinen spüre.
Der Gedanke an Walter hat meist solche Folgen, auch wenn ich es ungern zugebe.
«Außerdem spricht man nicht so mit seiner Tante», rüge ich sie und höre Lucy enttäuscht aufstöhnen.
«Ach menno. Von wem soll ich denn was lernen? Von deiner Schwester vielleicht? Bald bin ich volljährig und immer noch Jungfrau.»
Ich lasse mir Zeit mit der Antwort. Was Rebecca betrifft, muss ich ihr leider recht geben.
«Ist das so schlimm? So unsagbar grausam?», versuche ich es diesmal besonders sanft.
«Na ja», entgegnet sie gedehnt. «Die anderen hatten alle schon einmal ...»
Unwirsch unterbreche ich sie. «Seit wann interessiert dich, was andere Tun? Außerdem, wer sagt dir, dass sie dich nicht belügen? Sich etwas zusammenreimen, um cooler zu sein. Spreche ich mit der Lucy, die immer nur ihr Ding durchziehen will? Oder mit einem Androiden, der nur wie meine Nichte klingt?»
Ich höre sie kichern und weiß, dass ich gewonnen habe.
«Aber du hast wenigstens deinen Spaß mit Walter. Und ich? Ich durfte noch nicht mal einen ordentlichen Schwanz in der Hand halten», mault sie aufgekratzt.
«Lucy!», drohe ich und füge rasch hinzu: «Spaß ist relativ. Glaub mir. Nicht alles im Leben dreht sich nur um Sex. Es sind die alltäglichen Kleinigkeiten, die man in einer Freundschaft oder Partnerschaft miteinander bewältigen muss.»
«Jetzt klingst du wie Rebecca ..., ja, na gut, wie Mutter», seufzt sie. «Das finde ich nicht so prickelnd. Ist dir das klar?»
«Lucy, ich liebe es, wenn es prickelt», scherze ich und höre sie mürrisch brummen. «Aber wir reden hier von lediglich ein paar Sekunden oder vielleicht auch Minuten. Dann ist es wieder vorbei, so schön wie es auch war. Dann kehren der schnöde Alltag und der allgemeine Frust zurück.»
«Ja ..., mag sein ...», antwortet sie zögerlich.
Ihr Ärger, ebenso ihre übertriebene Euphorie scheinen wie weggeblasen. Für einen Augenblick packt mich die Sorge. Ob sie wohl krank ist oder irgendetwas schluckt, weil ihre Stimmungen so rapide schwanken? Ich erinnere mich an die Zeit zurück. Wie ich daheim ausrastete, wenn mir meine geliebte Schwester wieder etwas hinein würgte. Anschließend verleitete sie Mutter dazu, mich zu schimpfen oder gar zu bestrafen. Hinterher fühlte ich mich oftmals todunglücklich. Nein, ich muss mich wohl damit abfinden, dass Lucy neben dem Äußeren auch einiges andere vererbt bekommen hat. Sie ist mir in vielerlei Hinsicht einfach viel zu ähnlich ob es mir nun gefällt oder nicht.
«Wenn ich rechtzeitig mit dem Training fertig bin, kann ich morgen noch ein, zwei Stunden mit dir einkaufen gehen. Wie klingt das?»
Zuerst glaube ich, sie hat mein Angebot überhört, oder denkt, dass ich erneut scherze, als sie doch antwortet.
«Danke Elli, das ist lieb von dir. Ich schau gleich mal den Schrank durch und melde mich wieder. Wir könnten uns direkt am Studio treffen.»
Nur gut, dass sie nicht sieht, wie ich breit grinse. Ich bemühe mich um einen möglichst neutralen Ton, als ich mich von ihr verabschiede und wir uns gegenseitig eine gute Nacht wünschen. Erst Jeanette, dann Walter. Noch eine Kandidatin mehr, die mich auf die Palme bringt, hätte mir sicherlich den Schlaf geraubt.
Der anfängliche Ärger meiner Nichte hat zumindest eine gute Seite gehabt. Es hilft mir, die eigene Wut zu vergessen. Ich seufze und starre auf das Mobilteil, das sein Display allmählich verdunkelt.
Eigentlich lag es gar nicht in meiner Absicht, Walter zu kontrollieren. Aber als ich vorhin heimkam, hatte ich solchen Heißhunger auf ein Stück Käse. Dabei bemerkte ich, dass immer noch frisches Joghurt fehlt. Entsprechend genervt öffnete ich den Vorratsschrank, wo wir den Kaffee aufbewahren, erwartete mich gleich die nächste Niete. Kein Joghurt und kein Kaffee. Er hatte nichts davon eingekauft. Ich stand kurz davor, zu explodieren, weil ich obendrein eine Nachricht auf dem Kopfkissen fand. Er hätte heute leider einen Nachteinsatz. Wenn er den Zettel geschrieben hat, war er also zwischenzeitlich in der Wohnung gewesen. Warum besorgte er dann unterwegs nichts von dem, was uns fehlte? Nur das Klingeln des Handys hinderte mich daran, lauthals eine Schimpftirade loszutreten. Die Sache ist für ihn noch nicht ausgestanden. Wehe er kommt mir morgen früh unter die Augen.