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PrologHier der Prolog. Nils hat es nicht leicht, das muss ich zugeben... Die Uhr auf dem Handy zeigt bereits weit nach Mitternacht. Madeline schrieb in der SMS, dass er an der Bar auf sie warten soll. Sie müsste noch etwas Dringendes erledigen und hätte auch eine besondere Überraschung für ihn. Anfangs, als er Madeline erst seit ein paar Wochen kannte, dachte er bei solchen Bemerkungen an irgendwelche kleinen Geschenke, an Freikarten fürs Kino, die Einladung zu einer Party oder irgendetwas derartiges. Doch er musste schnell erkennen, wie sehr er mit seiner Einschätzung daneben lag. Sie verstand darunter völlig andere Dinge, die ihn eine ganze Zeit lang eindeutig überforderten. Er hat ihr eine Schachtel Pralinen gekauft als er sie zum ersten Mal zu Hause besuchte und sich prompt den Spott einiger Freunde eingehandelt, die später davon erfuhren. Bis über beide Ohren in seine neue Flamme verliebt, fand er es einfach romantisch, so etwas zu tun, Madeline hingegen nur altmodisch, uncool und schwul. Sie versetzte ihm damit ihren ersten Prankenhieb und es blieb nicht bei dem einen. Er kann sich nur allzu gut an eine peinliche Szene beim Abendessen bei ihrem Lieblings-Italiener erinnern. Als sie ihm freudestrahlend ein Kondom über den Tisch schob, noch während sie die Speisekarte in Händen hielten. Nicht genug ihr süffisanter Kommentar, dass sie vor dem Essen noch gerne etwas lutschen würde. Sie hätte extra Kirschgeschmack besorgt. Bis heute sieht er die verblüfften Gesichter von Mario und Alisia vor sich, einem befreundeten Pärchen von Madeline, die das Zwiegespräch sowohl aufmerksam als auch amüsiert verfolgten. Und er kann sie noch fühlen, die Hitze in seinem Gesicht, vor Scham. Bis zu diesem Augenblick dachte er, nur frühpubertierende Gören reden so, um reifer zu erscheinen. Madeline sagt so etwas nie zum Spaß. Im Laufe des vergangenen Jahres hat er sich allmählich daran gewöhnt. An die ungezwungene Leichtigkeit, die Stimmungsschwankungen und die Euphorie, mit der sie das Leben bestreitet und es auch rückhaltlos von ihm, ihrem Freund erwartet. Inzwischen ist er sogar gespannt, was ihr noch so alles einfällt. Und sie ist immer wieder für eine Überraschung gut. Erstaunt hatte sie ihn bisher nur einmal, als sie zufällig seiner Mutter begegneten. Madeline verhielt sich vorbildlich, bot all ihren Charme auf und verblüffte selbst ihn. Doch in den letzten Wochen hat sich verändert. Unterschwellig, nicht wirklich greifbar, aber er kann es fühlen und es macht ihm Angst. Es begann bei einer ausschweifenden Party einer ihrer Ex-Freunde. Frieden schließen wollte er mit ihr. Den noch immer schwelenden Streit beenden. Es floss Alkohol in rauen Mengen, ausnahmsweise auch bei ihm, sodass er sich an nicht mehr an viel von dem erinnern kann, was geschah. Sie liebte die drei <Ps>, Party, Pillen, Pilze. An diesem Abend genoss sie reichlich davon. Er warnte sie ständig, das Zeug nicht anzufassen, doch er hätte sich die Mühe sparen können, an ihre Vernunft zu appellieren. Madeline lebte das Leben zu jeder Sekunde in vollen Zügen und ihr waren dazu nahezu alle Mittel recht. Der Wohlstand der Eltern und das offensichtliche Desinteresse an ihrem Tun und Handeln, gaben ihr dabei die nötigen Ressourcen und vor allem die Freiheit, sich das zu gönnen, was sie wollte. Und sie wollte viel. Von Monat zu Monat immer mehr, das ist selbst ihm aufgefallen. In letzter Zeit deutlich zu viel für seinen Geschmack. Nervös äugt er auf das Handy. Schon wieder eine Viertelstunde vergangen, ohne dass sie sich blicken lässt oder meldet. Am Ende hat es etwas mit ihrer Geburtstagsfeier zu tun, die sie bereits seit Wochen plant. Den 21. will sie besonders groß aufziehen. <Endlich erwachsen>, meinte sie. Er ist das Thema inzwischen beinahe Leid, denn es vergeht kein Tag ohne ausführliche Diskussion. Ihm wird sofort übel, wenn er daran denkt. Nur noch fünf Tage bleiben. Und noch immer fehlt ihm eine zündende Idee für ein passendes Geschenk. Dutzende Einfälle hat er verworfen. Was schenkt man jemandem, der alles besitzt und dabei noch so anders tickt, als alle seine anderen Freunde? Sein Herz klopft. Unruhig rutscht er auf dem Barhocker hin und her. Ob er ihr eine SMS schreiben soll? Anrufen ist tabu. Diesen Fehler hatte er nur einmal begangen und zur Strafe weigerte sie sich, drei ganze Tage mit ihm zu reden. Sie würde es hassen, wenn jemand hinter ihr her spioniere. Und Lust auf nervige Kletten, hätte sie noch weniger. Zumindest auf Simsen konnten sie sich nach zähem Ringen einigen. Ein Ringen, das es in sich hatte. Für Madeline war es völlig normal und selbstverständlich, Meinungsverschieden-heiten dann auszudiskutieren, wenn sie gerade miteinander schliefen. Bisher hatte er noch kein Argument gefunden, um ihr klar zu machen, dass für ihn Sex mehr bedeutet, als eine angenehme sportliche Betätigung. Ein bisschen Zärtlichkeiten, ein Hauch von Romantik, anregende Musik und eine ansprechende Umgebung gehörten für ihn dazu. Manchmal fragte er sich, ob sie in der Beziehung lediglich die Rollen getauscht hatten. War das, was er sich wünschte, nicht üblicherweise der weibliche Part? Madeline ignorierte seine Einwände ganz und gar. Wenigstens beruhigte es ihn, dass sie sich nicht über ihn lustig machte. Das gab ihm Mut, die Hoffnung nicht aufzugeben. Mit der Zeit hat er sich an ihre spontanen Einfälle und Aktionen gewöhnt. Einen Joint auf der Parkbank rauchen, sich während des Autofahrens entkleiden, um ihm neue Dessous zu zeigen. Manchmal bekam er Dinge geboten, dessen Namen er noch nicht einmal kannte. Ihm am Hinterausgang des Kinos einen blasen, gehörte noch zu den harmlosen Sachen. Sie liebte das Impulsive, das Verruchte und besonders das Spiel mit dem Feuer. Nicht genug forderte sie jedes Mal ein bisschen mehr, wie eine Süchtige. Auch wenn sie es vehement abstritt, als er sie vorsichtig darauf ansprach, ist er inzwischen überzeugt, dass sie eine exhibitionistische Ader besitzt, die beständig wächst. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, so ist ihr gleichgültig, an welchem Ort sie sich befinden. Ein Wunder, dass bisher niemand die Polizei verständigt hat. Tief in seinem Inneren schlummert die Angst, eines Tages von jemanden darauf angesprochen zu werden. Ein kompromittierendes Video genügt, hochgeladen auf Youtube oder einem anderen Social Media, zufällig aufgenommen von einem Fremden. Kaum auszudenken, welchen Schaden es anrichten könnte. Für ihren Ruf, ihre Zukunft. Er will nicht weiter darüber nachdenken. Ihr Hunger nach dem neuen, noch größeren Kick nimmt stetig zu, zweifellos. Seit dieser Party leidet sie unter noch extremeren Stimmungsschwankungen, als zuvor. Und das soll etwas heißen. Er weiß nicht, wie lange er es noch ertragen kann. Doch egal, was auch kommt, es ist für ihn einfach unvorstellbar, Madeline wieder zu verlieren. Er nippt am Cocktail. Alkoholfrei. Einen Richtigen mit Rum oder Tequila kann er sich nicht erlauben, weil er fahren muss. Für ihn gilt noch die Null-Promille-Grenze. Führerschein weg und Fahrverbot wegen Trunkenheit, das hätte ihm gerade noch gefehlt. Es wäre eine Katastrophe. Das Handy neben ihm summt. Hektisch greift er danach und liest die SMS: «auf der toilette. JETZT! <3mad.» Sie hat geschrieben. Das Herz schlägt ihm bis zum Hals und der Puls rast, als käme er von einem Sprint. Verdammt, warum kann sie nicht ein bisschen normaler sein? Wie oft hat er sich das gewünscht, seitdem sie zusammen sind? Er hat aufgegeben, zu zählen. Hastig leert er das Glas und spuckt die Kirsche zurück. Die Bässe wummern. Ein weiterer dieser nichtssagenden Techno-Songs, die sich alle so gleichen, wie ein Ei dem anderen. <Einheitsbrei, ohne Struktur, einfach nur langweilig>, so hatte er geantwortet, als sie ihn fragte, ob ihm die Musik gefiel. Es war ein Fehler, das merkte er sofort. Doch er konnte es nicht ungeschehen machen. Er winkt der Frau hinter dem Tresen, deutet auf sein Glas und drückt ihr einen Schein in die Hand. Wer weiß, was sich Madeline diesmal ausgedacht hat? Er will nicht noch einmal die Peinlichkeit erleben, durch das Toilettenfenster fliehen zu müssen, weil es ihr gerade danach war, die Zeche zu prellen. Obwohl er am nächsten Tag ein anonymes Kuvert mit einem deutlich höheren Betrag in den Briefkasten des Restaurants warf, traute er, sich bis heute nicht mehr dort zum Essen hinzugehen. Er winkt ab, als die junge Frau ihm das Wechselgeld geben will und lächelt. Was sie gesagt hat, kann er bei dem Lärm sowieso nicht verstehen. Sie nickt dankend und ehe er sich versieht, ist sie schon wieder entschwunden. Toilette. Sein Blick schweift durch den Raum und bleibt an einem grünen Notausgang-Schild hängen. Dort sind auch die Toiletten. Warum kann sie nicht schreiben, welche sie meint? Er rutscht vom hohen Barhocker und drängt sich mühsam durch die Menge der Tanzenden. Trotz Verbot hat hier innen jemand geraucht. Noch mehr Gestank als üblich. Er rümpft die Nase und bemüht sich flach zu atmen. Zwei Typen treiben lauthals Faxen an den Urinalen. Er gibt vor, sich die Hände zu waschen, beobachtet die Beiden unauffällig über den Spiegel. Warum verwundert es ihn nicht, dass sie den Raum verlassen, ohne sich die Pfoten zu waschen? Schweine. Mit einem raschen Blick überzeugt er sich, dass sie nicht die Männertoilette gemeint haben kann. Es ekelt ihn davor, vor den Waschbecken in die Hocke zu gehen und vorzugeben sich die Schuhe zu binden. Verstohlen mustert er die beiden geschlossenen Kabinen. Männerhosen und die passenden Beine dazu. Er hört laute Furzgeräusche und verzieht angewidert das Gesicht. Auf irgendeine Weise fühlt er sich aber auch erleichtert. Was hätte Madeline hier auch machen wollen? Nein, diese blöde Frage stellt er lieber überhaupt nicht. Was schon. Einen Joint rauchen? Blödsinn, einen Quickie natürlich. Ihm wird schlagartig heiß. Noch ehe die Tür hinter ihm zufällt, rinnen ihm die ersten Schweißtropfen den Rücken hinunter, was nicht nur an der Hitze oder dem widerlichen Gestank hier innen liegt. Zögerlich nähert er sich der Frauentoilette. Das kann doch nicht ihr Ernst sein? Die fünf jungen Frauen beachten ihn kaum, als er näher kommt. Jede glotzt auf ihr Handy, kichert oder tippt, während sie geduldig warten, bis eine der Kabinen wieder frei wird. Die Hoffnung, Madeline dort in der Schlange zu treffen zerplatzt, wie eine Seifenblase. Sie kann schließlich nicht ernsthaft verlangen, dass er in diese Toilette geht. Die Frauen würden ihn in der Luft zerreißen. Selbst wenn sie ihn nicht persönlich angingen, so spürt er bereits die Hand des Türstehers im Nacken, der ihn ohne großes Federlesen vor die Tür setzen würde. Mit Recht. Soll er warten? Sie schrieb <JETZT> in Großbuchstaben. Es hat ihn verwundert, weil sie nie große Buchstaben verwendet. Sie sagt, sie hasst es, doch er weiß, dass sie einfach zu faul ist, den Zeichensatz umzuschalten. «Was machst denn du hier, Nils? Ist bei euch geschlossen, oder was?», spricht ihn eine langhaarige Blondine mit ausgesprochen offenherziger Bluse an, die gerade durch die Tür kommt. Er kann nicht verhindern, dass er errötet. Zwei der Frauen drehen sich erst jetzt zu ihm um, beäugen ihn desinteressiert und widmen sich lieber wieder ihren Handys. «Nein, das nicht», antwortet er verdattert und zeigt der Blondine ein entschuldigendes Schulterzucken. Spontan fällt ihm ein, dass dies Heike sein muss, eine von Madelines zahlreichen Freundinnen aus der Uni. «Hast du dort drinnen zufällig Madeline gesehen?», fragt er verlegen und errötet erneut. Heikes allzu spöttisches Grinsen, beweist ihm sofort, dass auch sie bestens Bescheid weiß, über den Hang seiner Freundin für das Außergewöhnliche. «Nein, hab sie nicht gesehen. Wieso?» Sie hängt förmlich an seinen Lippen, mit dem Finger vermutlich am Handy, um sofort zu posten, wenn er sich verplappert. «Ach, sie hat mir nur kurz 'ne SMS geschrieben, dass sie auf der Toilette wäre und ich kommen soll», antwortet er möglichst unverfänglich und sieht die Neugierde in Heikes Gesicht. «Ich hatte nur Angst, dass ihr vielleicht schlecht ist, zu viel getrunken ...», fügt er noch rasch hinzu. Heikes Interesse erlahmt schlagartig. «Nö, wie gesagt, da drin ist niemand, der kotzen muss. Das hätte ich gehört», grinst sie und drückt sich an ihm vorbei. Als sie sich bereits einige Schritte entfernt hat, dreht sie sich noch einmal um. «Hast du denn draußen nachgesehen? Im Hof? Dort sind doch die alten Toiletten. Hin und wieder ist nicht abgesperrt, weil es da auch in den Keller geht. Da drin kann man echt gut kotzen, ohne dass es einer merkt», zwinkert sie ihm zu und verschwindet grußlos in der Menge. Die alten Toiletten. Na klar. Warum hat er nicht daran gedacht? Vermutlich weil er generell vermeidet, in Bars oder Diskotheken das WC aufzusuchen und das aus gutem Grund. Besoffene, Schläger, Schwule oder Dealer sind ihm ein Gräuel. Er hat keine Lust angepöbelt, doof angequatscht oder gar übel angemacht zu werden. Das heute war der reinste Glücksfall, mit Ausnahme der beiden Schweine, die sich nach dem Pissen die Pfoten nicht gewaschen haben. Er schüttelt angeekelt den Kopf, auch deshalb, weil etwas mit ihm geschieht. Weil er spürt, dass er allmählich seine eigene Sprache verliert. Dabei verabscheute er schon immer, so lange er denken kann, Typen, die einzig und allein in der Lage waren in derber Gossensprache zu kommunizieren. Fieberhaft überlegt er sich den schnellsten Weg nach draußen. Vermutlich ist Madeline stinksauer, weil er sie so lange warten lässt, auch wenn es nicht seine Schuld ist. Nur zu oft ist ihre sexuelle Erregung blitzartig in eine emotionale umgeschlagen, mit meist fatalen Folgen, die noch Stunden oder gar Tage nachwirken kann. Er muss schleunigst hinüber zum anderen Notausgang, der auf den Hof führt und lediglich von Rauchern genutzt wird. Doch selbst die Hartgesottenen hält es dort nicht lange. Abgesehen vom nackten Boden gibt es keine Sitzgelegenheit. Viel schlimmer jedoch sind mehrere Müllcontainer, die das ganze Jahr über einen penetranten Gestank verbreiten, den nicht einmal Kettenraucher für lange Zeit ertragen. Er trifft auf zwei Raucher, die hastig ihre Zigarette austreten und sich an ihm vorbei wieder in die Bar verdrücken. Er hat es befürchtet. Wie ein Schlag ins Gesicht. Seine Riechzellen rebellieren. Durch die Hitze der letzten Tage stinkt es noch bestialischer als sonst. Er würgt und hält sich die Hand vor den Mund, was kaum Linderung verschafft. Hektisch sucht er nach den Toiletten. Verdammt, er war erst einmal hier draußen und kann sich nicht mehr genau erinnern. Eine nackte, alte Glühbirne an einem Kabel, das über der Hintertür aus einem Loch im Mauerwerk ragt und zwei Straßenlampen vom angrenzenden Gehweg sind die einzigen Lichtquellen, abgesehen von einigen beleuchteten Fenstern. Gegenüber nahe der linken Mauerecke entdeckt er die beiden alten Holztüren der ehemaligen Toiletten. Eine davon scheint nur angelehnt. Ein schwacher Lichtschein dringt nach außen. Dort muss sie sein. Er dankt Heike insgeheim für den Tipp und schickt zur Sicherheit noch ein Stoßgebet gen Himmel. Erst jetzt registriert er, wie der Puls laut in den Ohren pocht. Seit ihrer SMS steht er regelrecht unter Strom. Sogar seine Hände zittern. Doch er spürt auch eine andere Erregung in sich aufsteigen, die trotz aller Widrigkeiten für eine gehörige Beule in der Hose sorgt. Madeline. Was hat sie sich nur wieder ausgedacht? Er huscht quer über den düsteren Innenhof, kommt fast ins Straucheln, weil er ein Loch in einer der alten Steinplatten übersieht. Fluchend um sein Gleichgewicht bemüht, schaut er über die Schulter. Doch niemand ist hinter ihm. Der Gestank ist kaum noch zu ertragen, besonders jetzt, wo er so heftig schnaufen muss. Er streckt die Hand nach der alten Tür aus und muss erneut würgen. Diesmal liegt es jedoch am Kloakengeruch aus der Toilette. Was will Madeline nur von ihm? Warum will sie sich hier mit ihm treffen? Für einen ihrer berüchtigten Quickies? Wie soll er hier in Fahrt kommen? Ein Teil der lustvollen Gefühle ist bereits verpufft, als er auf Heike traf, die sich inzwischen womöglich die wildesten Sachen ausmalt. Er bezweifelt, dass sie ihm die lahme Geschichte mit der Übelkeit abgekauft hat. Noch einmal versichert er sich mit einem raschen Blick zur Hintertür, dass er alleine ist. Ihr wäre es durchaus zuzutrauen, ihnen beiden aufzulauern, entsprechende Bilder zu schießen und sie Sekunden später in einer ihrer beliebten sozialen Netzwerke zu posten. Scheiß Handys. Nein, er kann hier nicht bleiben. Er muss es Madeline ausreden. Dieser Gestank und die Hitze dazu sind zu viel für ihn, auch wenn sein Freund in der Hose anderer Ansicht ist. Den ganzen Tag über regte sich kein Lufthauch, der für Kühlung sorgen könnte. Hier im Hinterhof ist es am schlimmsten. Die heiße Luft schwebt wie eine undurchdringliche Glocke darüber. Die Holztür quietscht fürchterlich, als er sie vorsichtig aufzieht. Erschrocken hält er inne. Madeline muss ihn spätestens jetzt gehört haben. Er lauscht. Nichts. Aus dem Augenwinkel beobachtet er die Hintertür der Bar und sieht eine Bewegung. Die Tür öffnet sich langsam. Mehrere Personen drängen laut lachend nach außen. Für einen Moment ist die Musik aus dem Inneren deutlich zu hören. Noch immer wummernde Techno-Bässe. Ohne lange zu überlegen, reißt er die Toilettentür weiter auf und huscht hindurch in die Düsternis. Diesmal kann er die Tür nahezu lautlos bewegen. Erleichtert hält er inne und späht durch den schmalen Spalt zur Gruppe am Hintereingang. Eine Frau und drei Männer. Raucher. Er sieht das Glimmen der Zigaretten bis hierher. Allmählich hat er sich sogar an den Gestank gewöhnt, doch der Mief dieser alten Toilette ist nicht unbedingt besser als der Müll im Hof. Vorsichtig drückt er die Tür zu und lehnt sich mit dem Rücken dagegen. Den schwachen Lichtschein, den er vorhin bemerkt hatte, stammt von einer einzelnen Lampe, die über der letzten Kabine brennt. Hier am Eingang bei den zwei abgeschlagenen Waschbecken und einem verrosteten Automaten für Tampons ist es so dunkel, dass er nur Schemen erkennt. Er tastet nach dem Lichtschalter, doch er hört es nur leise Klacken, als er den Bakelit-Schalter umlegt. Entweder ist der Strom hier vorne abgestellt oder die Lampen sind defekt. Er räuspert sich und spürt erst jetzt, wie trocken sein Mund und Hals sind. Der erste zaghafte Ruf gleicht deshalb eher einem tonlosen Krächzen. «Madeline? Bist du hier?», versucht er es erneut, doch keine Reaktion. «Madeline, Schatz. Ich bin es, Nils.» Noch immer keine Antwort. Ob er sich getäuscht hat? Vielleicht lag Heike mit ihrer Vermutung falsch? Am Ende erwartete sie ihn doch in der anderen Toilette? Oder es war nur ein Scherz? Manchmal spinnt sie sich einfach Sachen zusammen, das weiß er nur zu gut. Aber dann ließ sie ihn nie so lange im Ungewissen, schrieb ihm eine SMS, meldete sich per Telefon oder fetzte sich mit ihm von Angesicht zu Angesicht. Meist waren sie beide hinterher so scharf aufeinander, dass es kaum noch ein Halten gab. Alleine der Gedanke genügt, dass sich seine eigene Lust allmählich zurückmeldet. Doch sie hat keine rechte Chance gegen die zunehmende Sorge. Die Türen der vier Kabinen sind alle geschlossen. Er kommt sich etwas albern vor, als er die Erste beklommen öffnet. Im diffusen Licht kann er nur ein gähnendes Loch im Boden erkennen. Der Gestank, der ihm daraus entgegenschlägt, raubt ihm fast den Atem. Mit vorgehaltener Hand zieht er die Tür ins Schloss und macht einige Schritte rückwärts. Unfassbar. Er braucht einen Augenblick, bis sich sein Magen beruhigt hat, als er den Mut findet, die nächste Tür zu öffnen. Aber was soll er schon finden? Wieder eine Zelle ohne Toilettenschüssel? Nein. Lediglich der Deckel fehlt. Sogar der Rest einer Papierrolle ist noch im Halter. Hier ist es auch etwas heller als in der Nachbarkabine. Er nähert sich der einzigen intakten Lampe. Die dritte Kabine ist ebenfalls leer. Erst jetzt wird ihm bewusst, dass er vor lauter Aufregung die Luft anhält. Er fühlt sich wie auf dem Sprung, ist darauf gefasst, dass sie ihm aus der Kabine übermütig entgegen hüpft, um ihn zu überraschen. Oder zu schimpfen? Weil es so lange gedauert hat? Er würde es sogar verstehen. Seine Hand zittert, als er sie auf den letzten Türgriff legt. Das Metall fühlt sich rau und kalt an. Der Griff zeigt deutliche Rostspuren. Wenn sie hier ist, dann bleibt nur noch diese Kabine. Er holt noch einmal tief Luft, bevor er die Tür kräftig aufstößt. Er will ihr zuvorkommen, die Chance nutzen, sie zu erschrecken. Die Tür schlägt laut knallend gegen die Kabinenwand, sodass er zusammenzuckt. Der Schwung ist so stark, dass sie zurückprallt und sich fast wieder schließt. Nur für den Bruchteil einer Sekunde hat er es gesehen, doch es lässt ihm das Blut in den Adern gefrieren. Das darf nicht sein. Das kann nicht sein! Die Zeit verrinnt, wie Sand in einer Uhr. Doch er steht wie erstarrt, fühlt sich unfähig, sich zu bewegen. Übelkeit steigt in ihm hoch, seine Lungen brennen, weil er noch immer den Atem anhält. Hilflos streckt er die Hand nach dem Türgriff aus. Irgendetwas in ihm will ihn beruhigen. Es sei nur ein Scherz, ein übler Spaß. Er hat sich getäuscht und ist auf ihr Schauspiel hereingefallen. Doch eine andere Stimme in ihm wird immer lauter, verdrängt den Wunschgedanken, der nur aus seinem Selbstschutz entspringt. Keuchend stößt er den Atem aus, für einen kurzen Moment wird ihm schwarz vor Augen. Die wenigen Schritte kosten ihm endlose Überwindung, doch er muss es tun. Nur zwei Schritte und danach diese Tür öffnen. Er muss sich Gewissheit verschaffen. Sein Schrei schallt laut und schrill in dem gefliesten Raum. Er bemerkt es nicht einmal. Mit weit aufgerissen Augen torkelt er näher und hält sich entsetzt die Hand an den Bauch. Sie sitzt auf dem Deckel der Toilettenschüssel mit dem Rücken gegen die Wand gesunken. Der Spülkasten verhindert, dass sie auf den Boden rutscht. Ohne ihren Puls zu fühlen, weiß er sofort, dass sie tot ist. Ihre Augen. Sie werden ihn ein Leben lang verfolgen. Schluchzend kommt er näher, berührt ihre Hand, die sich noch warm anfühlt. Er kann den Blick nicht abwenden, muss auf die Spritze starren, die in ihrer Armbeuge steckt. Mit einem ihrer Schnürsenkel hat sie das Blut gestaut. Er stößt mit dem Fuß gegen ihren Schuh, der neben der Toilette achtlos auf dem Boden liegt. Was hat sie nur getan? Nur millimeterweise hebt er den Blick, hat Angst noch einmal ihr Gesicht und ihre Augen zu sehen. Das lange blonde Haar, auf das sie immer so stolz war, sieht struppig aus. Es bedeckt einen Teil ihres Dekolletés, das sie fast bis zum Nabel geöffnet hat. Ein Knopf fehlt. Nur die dünnen Enden der Fäden ragen aus dem Stoff. Auf dem Spülkasten liegt ein Tütchen mit weißem Pulver, ein Esslöffel und noch eine weitere Einwegspritze. Hat sie ihn erwartet? Wollte sie, dass er sich auch einen Schuss setzt? Heroin? Hat sie ihm nicht hoch und heilig versprochen, dieses Dreckszeug niemals anzufassen? Seine Gedanken rasen. Zitternd geht er in die Knie und legt den Kopf in ihren Schoß. Vorsichtig, dass er sie nicht noch mehr verletzt. Doch sie spürt nichts mehr. Ist tot. Warum? Er legt den Kopf in den Nacken. Tränen verschleiern den Blick. Die Glühbirne über ihm löst sich in unzählige trübe Lichtpunkte auf. Schluchzend schreit er immer wieder dieses eine Wort: «Warum?», bis ihm schließlich die Stimme versagt und er heulend zusammen bricht. Er weiß nicht, wie lange er vor ihr gekniet war. Ihm tun alle Knochen weh. Doch viel schlimmer ist das Gefühl, als ob ihm jemand sein Herz aus dem Leib gerissen hat. Madeline, seine Madeline. Sie war für jeden Unsinn zu begeistern, war verrückt, durchgeknallt, doch ihm war es egal. Er hat sie geliebt. So wie sie war. Hat seine Scham überwunden. War stolz. War unendlich glücklich - die meiste Zeit. Hat leidenschaftlich mit ihr gestritten. Und sich genauso heißblütig wieder mit ihr versöhnt. Wo sie wollte und wie sie es wollte. Er hat alles für sie getan. Und er war bereit, nahezu alles für sie zu tun, was sie von ihm verlangte. Wie konnte sie ihm das nur antun? Er verzieht schmerzvoll das Gesicht, als er sich langsam erhebt. Doch er spürt sie nicht, die Schmerzen. Die Körperlichen. Sie dringen nicht durch zu seinem Bewusstsein. Dazu ist die Qual im Kopf viel zu groß und droht ihm jeden Augenblick zu überwältigen. Diese Augen, ihre Augen. So starr, und stumpf. Ohne Leben. Er kann sie nicht länger ertragen. Er drückt ihre Lider nach unten, traut sich kaum, sie zu berühren. Seine Fingerspitzen sind graublau. Der Lidschatten hat abgefärbt. Schlagartig fühlt er sich völlig leer, ausgehöhlt. Zum ersten Mal sieht er diese junge Frau wie eine Fremde. Sein Verstand hat jegliche Emotionen ganz tief in seinem Kopf vergraben. Drogen? Heroin? Wie konnte das passieren? Eine Überdosis? Ein Unfall. Erst jetzt bemerkt er den Schaum an ihrem Mundwinkel, rot verfärbt, als hätte sie sich selbst gebissen. Auf ihrer Wange unter dem Auge ein dunkler Fleck, als hätte sie sich kurz zuvor gestoßen? Wurde sie womöglich geschlagen? Er kommt nicht mehr dazu, weiter nachzudenken, denn erneut überwältigen ihn die Gefühle. Ohne zu zögern legt er diesmal die Arme um ihren Oberkörper und zieht sie fest an sich. Trotz des vorherrschenden Gestanks kann er ihr Shampoo riechen. Grüner Apfel, ihr Lieblingsduft. Sie fühlt sich so leicht an. Deutlich spürt er die Brüste durch die dünne Bluse. Sie sind warm und so weich. Tränen laufen über seine Wangen, tropfen auf ihre Schulter. Erst als seine Arme schmerzen und ihn Krämpfe zwingen, sie wieder loszulassen, beugt er sich nach vorne und setzt sie sorgfältig zurück auf den Toilettensitz. Für einen Augenblick spielt er mit dem Gedanken, sie einfach von hier fortzubringen, sie nicht an diesem grässlichen Ort zu lassen. Doch was würde es ändern? Er würde nur Probleme bekommen. Riesige Probleme, die er sich nicht erlauben kann. Drogen sind schlimm. Heroin, noch schlimmer. Kein kleiner Joint für den Eigenbedarf. Sie ist tot. Das heißt jede Menge Fragen. Vermutlich sogar U-Haft. Er ist unschuldig. Doch würde man ihm glauben? Vielleicht. Irgendwann. Vielleicht auch nicht. Sie war schließlich seine Freundin. Und er befindet sich an einem Tatort. Seine Lippen zittern, als er sie so sitzen, sieht, den Kopf gegen die Wand gelehnt, als würde sie schlafen. Ob sie ihn foppen will und gar nicht tot ist? Sein Herz macht einen Sprung, ein Hoffnungsschimmer, er muss keuchen. Warum hat er nicht daran gedacht? Rasch beugt er sich nach vorne, legt den Kopf an ihre Brust. Doch er hört nur den eigenen rasselnden Atem. Nein, sie spielt nicht. Sie wird nie mehr spielen. Er schlägt die Hände vor das Gesicht und möchte nur schreien. Der Welt zeigen, wie sehr er leidet. Sein Hals fühlt sich noch rauer an, als zuvor. Lediglich ein heißeres Röcheln entweicht seinem Mund. Zu mehr ist er nicht fähig. Plötzlich schießt ihm ein Gedanke durch den Kopf. Ihr Handy, der Übeltäter dieser Nachricht. Wo ist es? Er kann es erstaunlicherweise nirgendwo finden. Weder in ihrer Handtasche noch in ihrer Kleidung oder irgendwo sonst in dieser stinkenden Kabine. Wo hat sie es nur gelassen? Warum er hastig nach der Spritze und dem Tütchen auf dem Spülkasten greift, sie achtlos in die Hosentasche stopft, weiß er später nicht mehr. Ebenso wenig, wie er sich nicht mehr erinnern kann, zurück zur Bar, zu seinem Auto gekommen zu sein. Irgendwann nachts schreckt er hoch. Er hat keine Ahnung, wo er sich befindet. Ein Rauschen, wie Wind, doch es sind Autos. Der Arm schmerzt. Er verlagert das Gewicht und schlägt sich den Ellenbogen an. Ein Lenkrad, er sitzt in seinem Auto. Nur zäh dringt diese Erkenntnis ins Gedächtnis vor. Madeline. Die grässlichen Bilder. Er keucht und jault, wie ein Hund. Sein Hals ist staubtrocken und schmerzt. Für einen kurzen Moment glaubt er, geträumt zu haben. Einen abscheulichen Albtraum. Doch es ist keiner. Der Beifahrersitz neben ihm ist leer. Keine Blondine, die friedlich schläft. Seine Fingerspitze fühlt die Spritze in der Tasche. Er hat nicht geträumt. «Madeline», wimmert er immer und immer wieder und vergräbt das Gesicht in der Armbeuge. Am liebsten möchte er auch sterben. Sie wieder sehen. Das Tütchen, die Spritze. Er bräuchte nur einem Löffel, etwas Wasser und ein Feuerzeug. Es wäre so einfach. Vermutlich würde er nicht einmal viel spüren. Doch dazu fehlt ihm der Mut. Er weint, lässt den Tränen freien Lauf. Minuten später überwältigt ihn erneut der Schlaf. So, das muss erst einmal genügen. Laura B. Reich, die Autorin meine ich, die hat sich noch einiges einfallen lassen. Richtig gruselig und vor allem eklig. Igitt, ich kann es förmlich spüren und riechen... |