Der glückliche Kunde freut sich auf die Ankunft des Zirkus...
Er kann sein Glück kaum fassen, als er auf der Heimfahrt von einem dreitägigen Seminar das großformatige Plakat an einem Gartenzaun kurz nach dem Ortsschild entdeckt. Der Zirkus Amborettini ist wieder in der Stadt und damit auch Dorina. Insgeheim hoffte er es, als er vor drei Wochen bei einem Fotoshooting für einen Werbekunden das Schild bereits in der Nachbarstadt gesehen hat. Schon gestern gab es offenbar die ersten Vorstellungen, wie er auf die Schnelle erkennen kann. Er spürt, wie sich sprunghaft der Puls erhöht. Für einen kurzen Moment schließt er die Augen, stellt sich in Gedanken ihr Gesicht und die schlanke Figur vor und produziert dabei fast einen Unfall.
Im letzten Augenblick bringt er das Fahrzeug mit laut ratterndem ABS zum Stehen. Wer rechnet auch damit, dass die Fahrerin vor ihm schon beim Umschalten der Ampel auf Gelb eine Vollbremsung hinlegt. Er ist nicht der Einzige, den das Verhalten überrascht. Ein gehetzter Blick in den Rückspiegel, lässt ihn ängstlich die Schultern hochziehen. Auch der Fahrer hinter ihm wird zu einer harten Bremsung mit quietschenden Reifen genötigt. Glücklicherweise bleibt der dumpfe Schlag am Heck aus.
Den drohenden Auffahrunfall gebannt und das im allerletzten Augenblick. Wenigstens hat sein Körper nun allen Grund, mit rasendem Puls und keuchendem Atem zu reagieren. Er spürt förmlich, wie das Adrenalin seine Adern flutet. Das war knapp, verdammt knapp sogar. Für einen Moment richtet er die Augen gen Himmel und dankt seinem Schutzengel. Als Fotograf gehört er zu den Abergläubischen. Sein Studienkollege Freddy hat ihn schon an der Uni ständig damit aufgezogen, aber er kann nichts dagegen tun. Er fühlt sich einfach wohler, wenn er seine gewohnten Rituale durchzieht, obwohl es ihm manchmal peinlich ist, wenn es andere Leute bemerken. Es tröstet ihn, dass er nicht der Einzige ist. Nie hätte er vermutet, wie abergläubisch Schauspieler und Models sein können.
Die Ampel schaltet wieder auf Grün. Diesmal hält er mehr Abstand. Wer weiß, was sich die Fahrerin noch alles an Überraschungen einfallen lässt. Er hat kaum zu Ende gedacht, als die Frau den rechten Blinker setzt und in eine Parklücke fährt. Erleichtert atmet er auf.
«Ein Problem weniger», murmelt er leise vor sich hin und bewältigt den letzten Kilometer bis zu seiner Wohnung ohne weitere Störungen.
Den Reisekoffer stellt er neben den Wäschekorb. Die meiste Kleidung ist total durchgeschwitzt, weil es im Seminarraum viel zu heiß war. Keine Klimaanlage und das bei dem Batzen Geld. Er war nicht der Einzige, der bei der abschließenden Bewertung bissige Bemerkungen auf dem Formular hinterließ. Jetzt braucht er unbedingt ein Vollbad. Die letzte schweißtreibende Aktion gab nicht nur seiner Kleidung den Rest. Er klebt unangenehm am ganzen Körper.
Sein Blick fällt auf die Kommode neben dem Bett. Darin bewahrt er seine speziellen Spielsachen auf. Sofort schießen ihm Bilder durch den Kopf, auch wenn das Treffen mit Dorina bereits ein Jahr zurückliegt. Sie war unglaublich. Noch nie hatte er eine Frau erlebt, die zu solchen ausgefallenen Stellungen in der Lage war. Er fragte sie, ob sie, denn als Schlangenmensch auftreten würde. Sie hatte nur gelacht und meinte, sie wäre meilenweit davon entfernt, könnte ihm aber gerne jemanden vorstellen, wenn er es wünsche. Er lehnte verunsichert ab. Schließlich war er mit Dorinas Angeboten mehr als zufrieden. Dreimal bekam er einen Termin und opferte dafür die gesamten Einnahmen von zwei lukrativen Kundenaufträgen. Eine Menge Geld, doch sie war jeden einzelnen Cent wert.
Mit Grauen denkt er an Christine. Was für ein Desaster. Dabei hatte er zu Beginn ein gutes Gefühl bei der Sache. Sie schien freundlich, aufgeschlossen und vor allem sehr interessiert zu sein. Es geschah nicht gleich nach dem ersten Treffen, einem ziemlich feuchtfröhlichen Abendessen in einem griechischen Lokal. Irgendwo in einem der unzähligen Ratgeber einer Illustrierten hatte er gelesen, dass man es langsam angehen sollte, wenn beide an einer längerfristigen Beziehung interessiert wären. Langsam angehen, das sagt sich so leicht. Hatte er sich bei ihrer Vorgängerin nicht auch besonders viel Zeit gelassen? Erst nach dem vierten Treffen landeten sie in der Kiste und das sogar, weil sie es von sich aus so wollte. Ein ganzes Monat ließ er danach verstreichen, bis er es wagte, seine speziellen Wünsche zu äußern. Er kassierte dafür eine eiskalte Abfuhr und am nächsten Tag war Schluss. Christine hingegen machte ihm wirklich Hoffnung. Sie zeigte sich von Anfang an überraschend dominant und übernahm gerne die Führung. Sie gab sich laut und leidenschaftlich, was ihm ordentlich imponierte. Bei ihr hatte er zum ersten Mal den Eindruck, dass sie ihm nichts vorspielte. [..] Das konnte er nicht nur hören und sehen, sondern auch fühlen.
Diesmal wartete er ganze sechs Wochen, obwohl sie in dieser kurzen Zeit schon mehr ausprobiert hatten, als er mit einem halben Dutzend Frauen zuvor. Umso mehr entsetzte ihn ihre Reaktion. Warum sie sich in der Hinsicht so vehement sträubte, ist ihm bis jetzt ein Rätsel. Sie hatte ihm stattdessen [..] vorgeschlagen [..]. Er stand jedoch nicht auf Gewalt und schüttelte nur resigniert den Kopf. Schließlich packte sie ihn am Arm und zog ihn ins Badezimmer. [..]
Mit einem Mal änderte sich auch ihr Tonfall, als sie abfällig bemerkte: «Warum denn nicht? [..] Sie wedelte mit den Händen und scheuchte ihn hinaus.
«Dann gibts auch nichts zu glotzen für dich. Pech mein Lieber. Ich muss jetzt dringend pinkeln. Also husch, husch raus hier.»
Er nahm ihre Aufforderung wortwörtlich. Noch während sie ihr Geschäft erledigte, sammelte er seine Kleidungsstücke, zog sich an und verließ ihre Wohnung. Erst zuhause fasste er den Mut, ihr eine Abschiedsbotschaft zu schreiben, eine WhatsApp, seine bisher längste. Danach löschte er ihren Kontakt. Nachdem er die Nachricht versendet hatte, wurde ihm bewusst, dass sie sich bis dato nur in einem billigen Hotel und bei ihr getroffen hatten, abgesehen von den beiden spontanen Nummern im Auto und hinter dem Kino. Sie wusste nicht einmal, wo er wohnte und das war sicherlich von Vorteil. Er wollte sich nicht ausmalen, wie emotional sie reagieren würde, obwohl er den Eindruck hatte, dass der Bruch bereits geschehen war, als sie ihn aus dem Badezimmer vertrieben hatte.
[..] Er löst den Blick von der Kommode, seufzt und zieht das Handy aus dem Clip am Gürtel. Die Nummer hat er noch abgespeichert. Ohne zu zögern, drückt er auf das Wählsymbol. Er hört den eigenen Puls laut im Ohr pochen, während er aufgeregt wartet, dass jemand abhebt. Neun quälend lange Klingeltöne muss er warten, bis sich eine Stimme meldet. Stillschweigend hat er schon damit gerechnet, nur die Mailbox zu erreichen. Es ist ein Mann, doch es überrascht ihn nicht sonderlich. Er weiß, dass sich ihr Bruder üblicherweise um die Termine kümmert. Nebenbei fungiert er auch als ihr Bodyguard und Dealer. Wer auf Spaß steht, ist bei ihm an der richtigen Adresse. Doch wer es übertreibt, der wird sein blaues Wunder erleben. Einmal beobachtete er hautnah, wie Dorinas Bruder einen übermütigen Freier auf den Boden der Tatsachen zurückholte. Er kannte sämtliche schmerzhaften Stellen, die kaum deutliche Spuren hinterließen. Das Risiko einer Anzeige hielt sich somit im kalkulierbaren Rahmen.
«Hallo ich bin's, Arnd. Ich hätte gerne einen Termin bei Dorina», meldet er sich mit klopfendem Herzen und fügt noch rasch eine Zahlenfolge hinzu, die er nur allzu gut auswendig kennt.
Es ist sein persönlicher Code, der sicherstellen soll, dass sich niemand fälschlicherweise für ihn ausgibt. Anfangs fand er es übertrieben. Doch mittlerweile ist ihm bewusst, dass illegale Prostitution, Dealen mit Pharmaka und Drogen und letztendlich die eine oder andere Körperverletzung bei säumigen Kandidaten keine Kavaliersdelikte darstellen. «Hallo Arnd. Schön von dir zu hören. Das Übliche?», fragt die männliche Stimme.
Er nickt aufgeregt, bis ihm klar wird, dass ihn Dorinas Bruder nicht sehen kann.
«Ja, wäre toll», krächzt er und schließt kurz die Augen.
«Morgen 19:00 Uhr wäre frei oder heute noch. Aber erst nach 3:00 Uhr. Du wärst der Letzte.»
«Ich nehme beide, auch den heute Nacht. 3:00 Uhr? Ich bin pünktlich.»
Er hört den Mann kurz heiser lachen. «Cash, wie immer. Kostet aber 50 Moneten mehr, als letztes Mal. Inflation, du weißt. Dafür schaue ich diesmal nicht auf die Uhr.»
«Ja, ja, geht in Ordnung. Ich bringe alles mit, auch die Sachen», versichert er und nickt erneut ganz automatisch.
«3:00 Uhr. Sei pünktlich, sonst wird dich Dorina bestrafen», lacht der Mann und trennt das Gespräch ohne Gruß.
Was hat er nur getan? Gleich zwei Termine. Hoffentlich hat er noch genügend Geld auf dem Konto. Das Seminar kostete bereits ein halbes Vermögen. Egal, selbst wenn er bei der Bank einen Dispo beantragen muss. Dorina bietet ihm wenigstens genau das für sein Geld, was er besonders gerne mag. Ihre Finger sind geschickt, beinahe magisch, und erkunden auch die dunkelsten Tiefen.
[...]