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PrologDie Flucht: Skrupellos und heimtückisch, von Anfang an... Mit einem vermutlich letzten Aufbäumen stemmte sich der Spätsommer in den ersten Tagen des Septembers mit strahlendem Sonnenschein und hochsommerlichen Temperaturen nahe der 30 °C gegen den herannahenden Herbst. Was vor allem die Restaurants, Biergärten und Cafés mit Plätzen im Freien aber auch die Zoos, Freizeitparks und selbst die Freibäder erfreute, erwies sich für den Zirkus Amborettini als enormer Nachteil. Kaum jemand war bereit, bei brütender Hitze während der Nachmittagsvorstellung in einem geschlossenen Zelt zu sitzen. Die wenigen Klimageräte, die noch rasch besorgt werden konnten und lediglich provisorisch den Dienst verrichteten, kamen gegen die Macht der Sonne nur unzureichend an. Kurzfristig hatte der Direktor Zoltán Szabó beschlossen, den Start der Abendvorstellung, um eine halbe Stunde zu verschieben, und dafür sämtliche Plakate in der Stadt mit der Änderung überkleben lassen. Immerhin war die letzte Vorstellung bis auf drei Dutzend Plätze ausverkauft, sodass sich der Aufwand rechnete, wenn auch nur geringfügig. Als an diesem Abend der letzte Vorhang fiel, blieben die erhofften Begeisterungsstürme größtenteils aus und das auf beiden Seiten. Der Applaus klang höflich, jedoch deutlich limitiert. Gründe dafür waren nicht nur in den verletzungsbedingten Kürzungen einiger Auftritte zu suchen. Die Saison war bereits zu Beginn geprägt von vielen kleinen Bagatellverletzungen der Artisten und Hilfskräfte, die kaum ausheilen konnten. Jetzt, kurz vor dem Saisonende forderten sie ihren Tribut. Gedanklich befanden sich manche der Artisten und Akrobaten bereits in der ersehnten Winterpause. Nur noch eine weitere Stadt auf der Tour und dann würde sich der Zirkus ins Winterlager begeben. Nach einer ziemlich durchwachsenen Saison also kein Grund zu überschwänglichem Jubel. Trotzdem hatte Zoltán es sich nicht nehmen lassen, für den Abend eine kleine spontane Feier zu organisieren. Angeblich besaß ein Verwandter im Nachbarort ein Restaurant und würde sie günstig beliefern. Außerdem wollte er seine Pläne mit neuen Ideen für die Saison 2007 verkünden, was die meisten Beteiligten noch viel mehr verwunderte. Was hatte er vor? Etwa den Spielplan verlängern und Wintervorstellungen geben? Zumindest machte er schon seit Jahren Andeutungen. Oder gar neue Nummern integrieren? Zusätzliche Artisten verpflichten? In nur wenigen Monaten? Bei Zoltán musste man jederzeit mit Überraschungen rechnen. Das Ärgerliche an der Sache, niemand, mit Ausnahme seiner Schwester Martina, wusste Bescheid. Kein Wunder, dass innerhalb kürzester Zeit die wildesten Gerüchte kursierten. Eine so kurzfristig anberaumte Feier hatten Zsombor und sie nicht einkalkuliert. Sie durchkreuzte ihre Pläne gleich in mehrerlei Hinsicht. Für einen Rückzieher war es jedoch zu spät. Verschieben um einige Stunden, stellte keine Gefahr dar, doch bei einem Abbruch würden sie viel Geld verlieren. Geld, dass sie ihren Kontaktleuten versprochen hatten, aber zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht besaßen. Erst weit nach Mitternacht ergab sich endlich eine günstige Gelegenheit zur unbemerkten Flucht, als die meisten auf der Feier bereits zu betrunken waren, um etwas mitzubekommen. Wenigstens hatte die Hitze in dieser Hinsicht ihre Vorteile und verhalf dem Alkohol bei den Feiernden zu einer rascheren und nachhaltigen Wirkung. Jetzt kurz vor 4:00 Uhr in der Nacht ist von der Hitze des Tages nichts mehr zu spüren. Es hat überraschend schnell abgekühlt. Der Fahrtwind, der durch den schmalen Spalt des Beifahrerfensters nach innen dringt, lässt die Luft an ihren Wangen eiskalt erscheinen, dabei glühen sie noch immer vor Aufregung. Vor knapp drei Stunden sind sie erst geflohen, nachdem es Zsombor schließlich gelungen war, den Tresor des Direktors zu knacken. Eine weitere Hürde, die ihnen kurzfristig im Wege stand. Just an diesem Abend hatte Zoltán die Kombination geändert. Aber wenigstens war er faul und nutzte darüber hinaus ein gewisses Schema, sodass bereits der elfte Versuch zum Erfolg führte. Jedenfalls trieb ihnen diese unerwartete Schwierigkeit nicht nur den Schweiß auf die Stirn, sondern auch den Blutdruck gehörig in die Höhe. Für einen kurzen Moment stand sie davor, die ganze Sache abzublasen, Geld hin oder her. Doch damit hätte sie den gesamten Plan gefährdet. Und ob es jemals wieder eine zweite Chance unter so günstigen Bedingungen für sie geben würde, wäre fraglich. Schließlich siegte die Vernunft und Kaltblütigkeit über die Panik. Direktor, was für ein hochtrabender Begriff für diesen aufgeblasenen Lackaffen, der selbst tagsüber außerhalb der Vorstellungen mit seinem Kostüm herum rannte. Am Liebsten würde sie lauthals lachen, wenn sie nur daran denkt. Aber sie muss vorsichtig sein, darf auf keinen Fall Zsombors Misstrauen wecken und das aus gutem Grund. Im Nachhinein weiß sie nicht mehr, welcher Teufel sie geritten hatte, gerade seinen Avancen nachzugeben. Womöglich, weil es ihr so charmant schmeichelte? Was für ein Bockmist. Schließlich wusste jeder im Zirkus, was für ein rücksichtsloser Schürzenjäger Zoltán doch war. Aber damit ist jetzt Schluss. Sie will ein neues Leben beginnen und hat in den letzten Jahren hart dafür gearbeitet. Und bei ihrem Masterplan ist für Zoltán kein Platz mehr vorgesehen ebenso wie für den Zirkus. Etwas weniger als die Hälfte des Geldes ließen sie zurück. Sie wollten niemanden in den Ruin treiben und das so kurz vor der Winterpause. Der Zirkus wird den Verlust verkraften, besonders Zoltán, dem das Jammern im Blut liegt, der jedoch sein Scherflein längst im Trockenen hat, im Gegensatz zu ihr und den restlichen Zirkusleuten. Das Geld dient ihr als Startkapital für eine völlig andere Sache. Um sich frühzeitig zur Ruhe zu setzen, ist es bei Weitem zu wenig. Tief in ihrem Inneren wurmt es sie, dass sie nicht mehr mitgehen ließen. Martina war gestern nur ätzend. Was bildete sich diese dumme Pute ein? Es gipfelte darin, dass sie von ihr für einen schnippischen Satz eine Ohrfeige kassierte. Immerhin sei sie Zoltáns Schwester und hätte das Sagen, wenn er nicht da wäre. Solch eine bodenlose Frechheit hätte sie bestrafen müssen. Doch Zsombor beruhigte ihr aufgebrachtes Gemüt. Sie wären schließlich keine gemeinen Diebe. Er ließ auch ihr Argument nicht gelten, dass für den Zirkus kaum laufende Kosten anfallen würden, seitdem sie die aufwendigen Tiernummern aus dem Programm gestrichen haben. Vier Pferde, ein Dutzend Hunde, ein paar Tauben und Kaninchen sind überschaubar und lassen sich durchaus überwintern. Sie hätte strikter aufbegehren sollen. Doch jetzt ist es zu spät. Nur noch wenige Minuten und sie erreichen die Stelle, an der sie das Auto wechseln werden. Sie mustert Zsombor von der Seite und bemerkt, wie er angespannt das Lenkrad umklammert. Er dreht den Kopf und lächelt ihr zu, um sie zu beruhigen. Seit einer Stunde haben sie kein Wort miteinander gesprochen. Den ständig wechselnden Sendern im Autoradio folgt sie schon lange nicht mehr. Was Zsombor wohl gerade denken mag? Ob es ihm ähnlich ergeht, wie ihr? Dabei hatte er ihr doch immer wieder versichert, dass ihm Geld nicht viel bedeuten würde, Hauptsache, er wäre mit ihr zusammen. Schuldbewusst legt sie die Hand auf den Bauch. Wenn er es wüsste, würde er kaum Grund zur Freude haben. Aber manchmal kommt es einfach anders, als man denkt und plant. Im Nachhinein ist sie selbst überrascht, wie sich alles ergeben hatte. Jetzt ist keine Zeit mehr, sich Vorwürfe zu machen. Immerhin gibt es durchaus Möglichkeiten, das Problem noch zu lösen. Doch aus einem unbestimmten Grund schreckt sie davor zurück. Es ist nicht die Furcht, als vielmehr ein vages Gefühl, dass sie von diesem Umstand eines Tages profitieren könnte. Der Kuckuck hat unwissentlich seine Arbeit verrichtet. Nun ist es an ihr, das Nest sorgfältig vorzubereiten. Sie dreht rasch den Kopf zur Seite, starrt aus dem Seitenfenster und unterdrückt den Reiz zu lachen. Cool, geduldig und sexy muss sie sich verhalten. Genau so hat es ihr Lukas eingetrichtert. Zsombor darf keinerlei Verdacht schöpfen, sonst könnte der gesamte Plan scheitern. Er besitzt ein feines Gespür für Menschen und ist darüber hinaus reaktionsschnell und unglaublich stark. Als sie in einer anderen Stadt unverhofft auf einen pöbelnden Mob trafen, ein Trupp angetrunkener Jugendliche, die sich einen Spaß daraus machten, sie mit Steinen und Flaschen anzugreifen, lief Zsombor zur Höchstform auf. Er alleine, verprügelte drei krankenhausreif und schlug den Rest in die Flucht. Anschließend sammelte er seelenruhig sämtliche Handys ein und entsorgte sie im nahe gelegenen Fluss. Lediglich Dorina erlitt eine Platzwunde durch eine Flasche, da es ihr nicht gelang, rasch genug zu flüchten. Zum Glück konnten sie verschwinden, ohne weiteres Aufsehen zu erregen. Wäre die Polizei zeitiger eingetroffen, hätten sie sich in jedem Fall ein riesiges Problem eingehandelt, egal ob sie schuldig oder unschuldig gewesen wären. Polizei gehörte schon immer zum natürlichen Feind des fahrenden Volkes. Zsombor wirft einen misstrauischen Blick in den Rückspiegel, scheint jedoch zufrieden zu sein und setzt den linken Blinker. Nur wenige Sekunden später rumpelt das Auto auf zwei unebenen Fahrspuren immer tiefer in den Wald hinein. Das Gestrüpp ist so dicht, dass er lediglich im Schritttempo fährt. Sie hält sich die Ohren zu, weil sie das hohe Quietschen der Äste, die über den Lack streifen, kaum noch ertragen kann. Es ist für sie fast so schlimm wie Kreide oder Fingernägel, die über eine Tafel kratzen. Die Fahrspuren münden mit einem Mal in einer kleinen Lichtung, die von alten hochgewachsenen Kiefern und einigen jungen Birken umsäumt ist. Sie erkennt das Auto nur für den Bruchteil einer Sekunde, als Zsombor einen Kreis fährt und die Scheinwerfer kurz darüber streifen. Er stoppt den Wagen, stößt einen erleichterten Schrei aus und schlägt auf das Lenkrad. Aufgeregt deutet er auf das Auto und lächelt sie freudig an. Ein dunkelblauer Peugeot 205 Diesel mit gerade einmal 64 PS, der bereits stattliche 15 Jahre auf dem Buckel hat. Das Einzige, was sie in der Kürze der Zeit für nahezu lau organisieren konnten. Sie zögert, lächelt zurück und schafft es vor Aufregung kaum, die Tür zu öffnen. Zsombor hingegen ist schwerlich zu bremsen, springt aus dem Auto und läuft schnurstracks auf den Peugeot zu. Binnen Sekunden hat ihn die Dunkelheit verschluckt, als er den Lichtkegel der Scheinwerfer verlässt. Von da an geht alles rasend schnell. Bevor sie aus dem Wagen geklettert ist, hört sie laute Stimmen, einen dumpfen Schlag und einen Schrei, der in einem Röcheln endet. Mit schreckensweiten Augen schlägt sie die Hände vor den Mund und starrt auf die Stelle, woher die Geräusche kamen. Erst allmählich gewöhnen sich ihre Augen an die Dunkelheit. Sie erkennt schemenhaft Bewegungen und fühlt sich wie versteinert. Als er plötzlich vor ihr steht, kann sie den Aufschrei nicht länger unterdrücken. Der Schreck weicht nur einem Sekundenbruchteil später grenzenloser Erleichterung. Tränen laufen über ihre Wangen, als sie ihm stürmisch um den Hals fällt und sie sich küssen, dass sie kaum noch Luft bekommt. Ihre Knie versagen den Dienst. Sie klammert sich an ihm fest und kann ihr Glück nicht fassen, als sie sich endlich wieder voneinander lösen. Er legt den Finger an den Mund, zeigt ihr, dass sie leise sein soll, und deutet auf den anderen Wagen. Sie nickt und spürt, wie sie am ganzen Körper zu zittern beginnt. Die Kälte und der Schock verrichten ihre Arbeit. Er trägt eine Gestalt über den Schultern, als er wenig später neben ihr auftaucht. Sie wagt nicht, zu atmen, schließt die Augen, weil sie es nicht mit ansehen will. Keuchen, Quietschen, ein kurzes Rumpeln, erneut Keuchen und zwei dumpfe Schläge vom Schließen der Fahrertür und des Kofferraums. Sie hätte aus lauter Panik beinahe in die Hose gemacht, als er sie sanft an der Schulter berührt. Was für ein grässlicher Handel? Auf was hat sie sich nur eingelassen? Ob Zsombor lange gelitten hat? Hoffentlich nicht, obwohl die Vermutung den Schmerz kaum zu lindern vermag. Ein Menschenleben für ihre Freiheit. Grauenvoll. Der Preis war zu hoch. Und irgendwann wird sie dafür büßen müssen. Das ist ihr erst in den letzten Minuten klar geworden. Niemals hätte sie sich darauf einlassen dürfen. Es hätte sicherlich eine Alternative gegeben, später einmal. Doch da lag ihr Problem. Ihr blieb nicht genug Zeit, um anders zu handeln. Die Natur lässt sich in manchen Dingen nicht einfach stoppen, wie es einem gefällt. Die Worte des Liedes durchdringen erneut ihre Gedanken. Sie dreht an der Kurbel und schließt das Fenster, bevor ihr noch mehr hereinschnellende Zweige die Hände und das Gesicht zerkratzen. Obwohl sie es verdient hätte, die Geißelung durch die Natur. Sie wandte sich schließlich gegen sie. Ließ es zu, dass ein Mensch getötet wurde. Ihr Retter mustert sie von der Seite, trommelt auf das Lenkrad und pfeift vergnügt den Refrain. Ihn scheint es in keiner Weise zu stören, was er soeben getan hatte. Im Gegenteil, nur selten erlebte sie ihn so frei und unbeschwert, wie gerade eben. Sie hingegen würde sich am Liebsten übergeben. |