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Alltägliches 3Ein bisschen Selbstreflektion am Morgen kann nichts schaden... Umso grausamer holt mich die Realität zurück, als ich im Badezimmerspiegel fassungslos auf die dunklen Augenringe und die fahle Haut starre. Meine Schwester mag recht haben, hat aber auch deutlich triftigere Gründe so zu denken, als ich. Nicht dass ich mich besonders attraktiv finde, obwohl mir andere häufig das Gegenteil bescheinigten. Gott hatte damals wenig Feingefühl bewiesen, als er die Gene auf uns beide verteilte. Meine Schwester kommt eindeutig nach unserem Vater, leicht untersetzt, mit einer unvorteilhaften Birnenfigur ausgestattet, die ein Abnehmen an den heiklen Stellen schlichtweg unmöglich macht. Bei mir dominieren die Gene unserer Mutter, mit hohen Wangenknochen, weit auseinanderstehenden, mandelförmigen, blauen Augen und einer schmalen Nase. Rebecca hat hingegen den runden Kopf von Vater. Ihre Augen stehen ein bisschen zu eng, als dass es noch attraktiv aussieht, getrennt von einer kleinen Stupsnase und abgerundet mit einem breiten Mund und dünnen Lippen. Ich wiederum habe einen richtigen Kussmund mit vollen Lippen, wenn ich mir einmal die Zeit nehme, sie mit einem passenden Lippenstift zu betonen. Mehr als Lipgloss ist meist jedoch nicht drin. Manchmal bedauere ich meine Schwester wegen ihres Äußeren, aber nur manchmal. Immerhin hat sie schnell einen geeigneten Deckel für ihren Topf gefunden und lebt in gut situierten Verhältnissen, wie man so schön sagt. Ihr Mann Holger besitzt eine gut laufende Versicherungsagentur und vereint damit gleich zwei Vorteile für Rebecca: wenig freie Zeit und jederzeit ausreichend Geld. Und sie genießt es, bei jeder Gelegenheit mir ihre ach so stressigen Aufgaben und Pflichten als Hausfrau und Mutter unter die Nase zu reiben. Nicht nur dafür hasse ich sie, sondern auch, dass sie die Einzige ist, abgesehen von meinem längst verstorbenen Großvater, die mich bei meinem vollen Vornamen nennt: Eleonore. Ich revanchiere mich schon zeit meines Lebens damit, sie Rebecca zu rufen, doch sie scheint es nicht im Entferntesten zu stören. Was ihre Aufgaben und Pflichten als Mutter betreffen, bewundere ich jedes Mal ihre Ignoranz zu akzeptieren, dass ihre Tochter Lucy inzwischen volljährig ist, studiert und in einer hübschen WG mit zwei anderen Studentinnen lebt. Ein Posten weniger, um den sich meine Schwester kümmern muss. Ich zügle den Zorn und drehe den Mischregler der Dusche auf kalt, bevor ich mich noch verbrühe. Langsam kreise ich mit kleinen Trippelschritten und geschlossenen Augen unter dem Strahl und bereue es nicht, mir damals diesen Luxus gegönnt zu haben. Eine richtig große Duschkabine mit Massagedüsen in den Wänden. Manchmal drehe ich mich minutenlang unter dem heißen Wasser und genieße die harten Strahlen auf der Haut. Nur gut, dass auch mein Massagestab wasserdicht ist. Die Kopfschmerzen lassen allmählich nach. Die Tablette wird gleich den Rest erledigen. Mein verspannter Nacken fühlt sich deutlich besser an. Unbewusst streiche ich mit der Hand unter den linken Busen und spüre die Narbe, die der Streifschuss hinterlassen hat. Knapp, sehr knapp, haben die Ärzte befunden und ich muss ihnen beipflichten. Langsam aber sicher verblassen die Bilder von diesem ganz besonderen Tag, von den wenigen Sekunden, die mein Leben ein stückweit veränderten. Nur selten schrecke ich noch schweißgebadet mitten in der Nacht aus dem bestens bekannten Albtraum hoch, in dem ich die schrecklichen Szenen erneut durchlebe. Den Schmerz, die Schreie, das Inferno auf der Straße. Ich drehe das Wasser ab und verfolge die Wassertropfen, die in dünnen Rinnsalen über die Haut den Weg nach unten suchen. Mit leisem Gurgeln verschwindet ein Schaumrest im Abfluss, als ich schweren Herzens die Glastür öffne und nach dem großen Badetuch fingere. Ich hätte es noch gut und gerne etwas länger ausgehalten. Aber die Vernunft, der dröhnende Kopf und vor allem der knurrende Magen überzeugen mich, das Wasserspiel bis auf Weiteres zu beenden. Nach Zähne putzen und ein paar raschen Versuchen, die Haare in Form zu bringen, fühle ich mich wieder wie ein Mensch. Ob ich sie schneiden lasse? Es wäre viel praktischer als schulterlang, überlege ich einen Moment und verwerfe den Gedanken sofort wieder. Zumindest ertrage ich mein Spiegelbild nun deutlich besser, als zuvor. Erst der Kopf, dann der Magen. Lediglich in Slip und BH schlüpfe ich in die Sandaletten, die mir im Sommer als Hausschuhe dienen. In der Küche löse ich eine Multi-Vitamin-Tablette in einem großen Glas Wasser auf und angle den Blister mit den Schmerztabletten aus der Verpackung, die ich neben allerlei anderen Mittelchen und Verbandsstoffen in der Erste-Hilfe-Schublade aufbewahre. Toast mit Honig und ein Becher warmer Kakao. Ich brauche nach so einer kurzen Nacht unbedingt etwas Süßes, sonst kann ich mich gleich wieder ins Bett legen. Der Körper lechzt nach Kalorien und straft mich mit einer schlechten Futterverwertung. Ich wiege seit dem 25. Lebensjahr um die 65 kg und habe die letzten 16 Jahre kaum ein Kilo zugelegt. Okay, ich bin nicht der große Vielfraß, esse meist nur, wenn ich richtig Hunger habe, kann jedoch Schokolade nur schwer widerstehen. Zum Ausgleich halte ich mich fit, was schon der Beruf mit sich bringt. Rebecca hingegen braucht nur an etwas Essbarem zu riechen und hat bereits ein Kilo mehr auf den Hüften. Ein Umstand, den sie mir bei jeder Gelegenheit vorhält. Doch jegliche Versuche, mich zu verführen, mehr zu essen, blieben bisher erfolglos.Lucy wiederum hat meine Figur und die herbe Schönheit ihrer Großmutter, wie ich. Früher glaubten viele Fremde, dass Lucy meine Tochter wäre, weil wir uns in vieler Hinsicht so ähnlichsahen. Ein weiterer Stachel im Fleisch meiner Schwester, die sich zu manch einem wutschnaubenden Kommentar hinreißen ließ, wenn sie ihre Rolle als perfekte Mutter durch mich bedroht sah. Ich spüle die letzten Bissen des Toasts mit dem Rest Kakao hinunter und umschlinge fröstelnd die Knie. Eigentlich müsste ich es besser wissen. Der Sommer ist vorbei und der Vermieter wird die Heizung erst am Wochenende einschalten. Ich hätte mich anziehen sollen. Jetzt ist mir fast wieder nach einer heißen Dusche zumute. Ich stelle das Geschirr in die Spüle und husche ins Schlafzimmer. Es ist schon spät und mein Termin rückt in greifbare Nähe. Dies ist auch der Grund, warum ich mich überhaupt so zeitig habe wecken lassen. Es gibt noch ein paar Unstimmigkeiten bei der Steuererklärung und die will ich so schnell wie möglich geklärt haben. Als Selbstständige mit Zusatzjob sollte ich mir eigentlich einen Steuerberater gönnen, alleine wegen des Aufwands. Ich weiß nicht, wie oft ich mir das in den letzten Jahren bereits vorgenommen und immer wieder auf die lange Bank geschoben habe. Aber jedes Mal wenn ich kurz davor stand, mir ein Branchenbuch zu schnappen, und nach einem geeigneten Kandidaten zu suchen, herrschte Flaute im Büro und in meinem Geldbeutel, sodass ich den guten Vorsatz rasch verwarf. In Wirklichkeit müsste ich mir keine Gedanken machen. Ich konnte mir dank einer Klientin ein beachtliches Sümmchen zur Seite legen und gewinnbringend für sich selbst arbeiten lassen. Mit dem Geld, das ich verdiene, komme ich klar und Gernot würde mich liebend gerne auch Vollzeit beschäftigen. Insgeheim handelt er mich als Nachfolgerin und Erbin seiner Lebensaufgabe, was mich in gewisser Weise mit Stolz erfüllt. Schon öfter sprach er mit mir über seine Ideen für die Zukunft, wann er aussteigt und wem er gerne die Kneipe anvertrauen würde. Bisher ließ ich es offen, da ich seine Hoffnung nicht gänzlich zerstören wollte. Der Grund ist banal. Ich sehe mich einfach nicht als Wirtin hinter einem Tresen stehen und der Gunst der Gäste ausgesetzt. Es sind zwei paar Stiefel, in der Kneipe zu arbeiten oder sie zu besitzen. Obwohl ich die Selbstständigkeit sehr schätze, sehe ich bei Gernots Kneipe deutlich mehr Abhängigkeiten als Freiheiten. Ich reiße mich mit Gewalt aus den Tagträumen und starre in den geöffneten Kleiderschrank. Nicht zu salopp aber auch nicht zu elegant. Ich entscheide mich für eine dunkle Jeans und eine helle Bluse. Dazu passen meine schwarzen College Schuhe mit dem flachen Absatz. Fehlt nur ein breiter Gürtel und ich bin zufrieden. Jetzt wird es aber wirklich knapp. Rasch stopfe ich den Stapel Rechnungen aus dem Arbeitszimmer in eine große Tasche und überlege, ob ich nicht doch das Auto nehmen soll. Aber bis ich zur Garage laufe und dann in der Innenstadt einen Parkplatz suchen muss, bin ich mit dem Fahrrad schneller. Meine kleine Handtasche landet ebenfalls in der großen Tasche. Ich habe keine Lust, alles umzuräumen und will auch keine zwei Trümmer auf dem Fahrrad transportieren. Ich bin schon dabei, die Tür ins Schloss ziehen, als mein Blick auf die beigefarbene Lederjacke an der Garderobe fällt. Es ist Herbst, ermahne ich mich und öffne noch einmal die Tür. Die Luft riecht frisch und fühlt sich feucht an vom Nebel der Nacht. Ich bereue es nicht, in der Lederjacke zu stecken, und trete kräftig in die Pedale. Ein Lieferant parkt auf dem Radweg und muss damit leben, dass ich ihm freundlich den Mittelfinger entgegen recke. Ein Taxifahrer ignoriert mein Klingeln und schneidet mir beim Rechtsabbiegen prompt den Weg ab. Nur gut, dass ich nicht auf der Vorfahrt bestehe. Alles normaler Wahnsinn, denke ich mir, nachdem ich den Frust verbal ablasse und sich eine ältere Frau kopfschüttelnd nach mir umdreht. Tagträume sind manchmal echt lästig. |