Hier der Prolog. Ruth hat Angst, da besteht kein Zweifel.
Der Wind peitscht die Zweige der großen Bäume. Ein Blitz erhellt den Raum und zaubert geisterhafte Figuren an die Wand des Wohnzimmers. Der Donner folgt nur kurz darauf und das kleine Häuschen mitten im Wald erbebt so heftig, dass sogar das Porzellangeschirr im Küchenschrank klirrt. Das Gewitter kommt immer näher. Einerseits etwas verwunderlich, dass angesichts der Jahreszeit ein Unwetter aufgezogen ist. Andererseits war es für Ende Oktober hier im schattigen Wald den ganzen Tag über unangenehm schwülwarm gewesen.
Eine starke Böe erfasst die große Buche neben dem Haus und lässt einen tief hängenden Ast gegen die Hauswand schlagen. Ruth schreckt aus dem Halbschlaf hoch, als der Ast den Fensterladen des Schlafzimmers trifft. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals. Sie reißt die Augen auf und hat das Gefühl, sie erst vor ein paar Sekunden geschlossen zu haben. Wach sein, dösen oder schlafen, es macht für sie kaum einen Unterschied. Tiefschlaf ist für sie längst ein Luxusgut geworden, das ihr nur noch selten und wenn, nur für wenige Stunden gewährt wird. Trotz der unzähligen Tabletten, die sie gegen ihren hohen Blutdruck, ihre Ängste und ihre Schlaflosigkeit schluckt. Oder vielleicht gerade deshalb.
Der Ast der Buche bereitet ihr bereits seit einiger Zeit immer größere Probleme. Eigentlich hatte sie längst vor, einen ihrer Söhne zu bitten, ihr dabei zu helfen. Sie kann sich gar nicht mehr erinnern, wann sie einer der drei hier besucht hat. Sie geben sich verärgert, dass sie noch immer hier wohnt. Hier im Haus ihrer Schwester und nicht bei ihnen im Familienanwesen oder wenigstens in einer hellen und freundlichen Wohnung in der Stadt.
Nach dem Tod ihres Ehemanns hat sie es in dem großen Herrenhaus nicht mehr ausgehalten. Obwohl sie mehr als die Hälfte ihres Lebens dort verbracht hat, kam sie sich als Witwe lediglich wie ein geduldeter Fremdkörper vor.
Sie gewann irgendwann den Eindruck, dass drei Generationen schlichtweg zu viel für ein Haus seien. Der Tod von Herfried Lissarts veränderte so vieles im bis dahin ruhigen und beschaulichen Leben. Leider nicht zum Besseren. Seitdem ihr Mann den Söhnen die Firma zu gleichen Teilen überschrieben hatte, um dem kleinen, selbstgeschaffenen Imperium eine Zukunft zu sichern, sah sie kaum noch eines ihrer Kinder. Die früheren regelmäßigen Zusammenkünfte an den Sonntagen, wo sich alle abwechselnd bei einem der Söhne zum ausgiebigen Mittagessen trafen, waren schon lange passé.
Das Herrenhaus war einfach riesengroß und man konnte sich geschickt aus dem Weg gehen, wenn man es wollte. Sie gehörte nicht zu den Menschen, die sich gerne aufdrängten und jeden Abend auf dem Sofa eines ihrer Kinder verbringen wollte.
Als Einzige der Verwandten blieb ihre Schwester Elisabeth, mit der sie noch regen Kontakt pflegte. Als sie beschlossen hatte, das große Anwesen zu verlassen, um im Haus der Schwester zu leben, rissen die letzten Höflichkeitsbesuche zu Feierlichkeiten abrupt ab. Und abgesehen von ihrer Enkelin Birgit, die sie weiterhin regelmäßig im Wald besuchte, ließ sich keiner der Angehörigen hier außen blicken.
Vor einem halben Jahr ist nun tragischerweise auch ihre Schwester verstorben. Sie stürzte auf dem Waldweg, der größtenteils nur aus zwei schmalen, schlammigen Fahrspuren bestand, vom Fahrrad, als sie bepackt mit Einkäufen aus der Stadt zurückkehrte. Dabei erlitt sie eine schwere Kopfverletzung, an der sie schließlich nach fünf Tagen verstarb. Die Polizei ging von einem gewöhnlichen Unfall aus, wie er im Wald auf unbefestigter Wegstrecke bei stürmischem Wind rasch passieren kann. Von einem dicken, schwingenden Ast am Kopf getroffen oder nicht schnell genug ausgewichen, galt als wahrscheinlichstes Szenario. Der Schock über den Tod der Schwester hat sie tief bestürzt, vielleicht sogar noch mehr berührt, als der Tod ihres Gatten, mit dem sie doch so viele Jahre verbracht hatte.
Seit diesem Zeitpunkt nagt an ihr zunehmend die Angst. Manchmal schnürt es ihr regelrecht die Kehle zu und sie hat Beklemmungen, Panik keine Luft mehr zu bekommen. Es sei kein gewöhnliches Asthma, sagen zumindest die Ärzte. Sie führen es auf die erlittene Trauer und den Verlust zweier geliebter Menschen in so kurzer Zeit zurück und vermuten das Problem im psychosomatischen Bereich. Seitdem nimmt sie noch mehr Medikamente nun auch gegen Depressionen. Doch es wird nicht besser. Im Gegenteil.
Und dann gibt es da eine andere Sache, die sie belastet. Nur ihre Enkelin und ihr Arzt wissen von den Geistern. Sie hat lange gebraucht, sie selbst zu akzeptieren. Es lässt sich jedoch nicht länger verleugnen. Nicht nur einmal hat sie sie gesehen, draußen im Wald, direkt vor dem Fenster. Wenn sie sich bewegten, als würden sie tanzen. Zuerst dachte sie an Schatten, abgebrochene Äste oder Wildtiere, wie Schleiereulen, die besonders nachts auf Beutefang gingen. Aber keines von diesen Geschöpfen würde grün oder rot leuchten und niemals so schauerliche Geräusche von sich geben.
Die Fensterläden vor dem Wohnzimmer lassen sich seit Monaten nicht mehr schließen. Eines Abends sind die Angeln gebrochen. Bisher hat sie es versäumt einen Handwerker zu rufen. Die dünnen Vorhänge sind ebenfalls schon alt und verschlissen und eignen sich kaum noch dazu, das Fenster zu verhüllen. Sie hat es mit einer Decke probiert, sie über die Vorhangstange gehängt. Doch die Decke war zu schwer, sodass sie befürchtete, die Stange würde mit der Zeit brechen.
Es nützt nichts, die Augen zu schließen oder den Kopf unter dem Kissen zu verbergen. Sie sind dort draußen. Kommen meist gegen Mitternacht und bleiben fast immer bis in die frühen Morgenstunden. Manchmal sind es nur wenige Minuten, dass sie ihr Unwesen vor den Fenstern treiben und danach ist stundenlang nichts zu sehen oder zu hören. Doch dann sind sie plötzlich wieder da. Tauchen aus dem Nebel auf, der so häufig vor den Fenstern wabert, viel häufiger, als zuvor. Sie rufen in ihr Erinnerungen an die geisterhaften Gestalten aus dem Film <The Fog> hervor. Nur einmal hat sie diesen Film gesehen und kann seit damals kaum noch eine der gruseligen Szenen vergessen. Sie weiß nicht, was die Geister von ihr wollen. Bisweilen sind sie nur stumm, zeitweise hört sie undeutliche Geräusche, die sie an Flüstern und gelegentlich auch an Jammern erinnern. Und in letzter Zeit klopfen sie jedoch an Türen und Fenster. Keine Äste im Wind, es sind die Geister, dessen ist sie sich gewiss. Seitdem geht sie nur noch mit dem großen Küchenmesser ins Bett. Doch sie bezweifelt, dass es ihr viel nützen würde, wenn die Gestalten eines Tages ins Haus kämen.
Birgit hat angeboten, bei ihr zu schlafen, was sie zunächst kategorisch abgelehnt hatte. Sie wollte ihre Enkelin nicht unnötig in Gefahr bringen. Nachdem Birgit nicht locker ließ, stimmte sie schließlich zu. Zwei Nächte übers Wochenende und nicht länger.
Es trat ein, was sie befürchtet hatte. Genau in diesen beiden Nächten blieben sowohl der Nebel als auch die Geister aus. Lediglich ein leichter Wind bewegte die Blätter der Bäume und Büsche. Kein Nebel, keine Geister, keine Geräusche nur einige äsende Rehe nahe am Zaun und eine Eule. Birgit tröstete sie, bot an, noch länger zu bleiben, doch das wollte sie ihr nicht abverlangen. Auch wenn ihre Enkelin nicht den Eindruck erweckte, dass sie den Geschichten über Geister nun weniger Glauben schenkte, als vorher, wollte sie sie nicht in Verlegenheit bringen. Manchmal zweifelte sie sogar schon an sich selbst. Am Ende entsprangen diese Gestalten nur ihrer lebhaften Fantasie.
Nicht heute. Ein weiterer Donnerschlag lässt das Haus erzittern. Der Ast der Buche schrammt scheppernd über die Ziegel an der Dachkante entlang und trifft den Fensterladen. Sie hält es nicht länger im Bett. Mit einem Mal ist sie sich nicht mehr sicher, im Erdgeschoss alle Fenster und Türen fest verschlossen zu haben. Die ersten Tropfen fallen schwer und laut auf das Dach. Das Atmen fällt ihr schwer. Langsam hangelt sie sich die Treppe nach unten. In der rechten Hand hält sie das große Küchenmesser und mit der anderen umklammert sie den Handlauf, dass die Knöchel ihrer mageren Finger hervortreten. Der Himmel öffnet seine Schleusen. Es duscht sintflutartig, sodass sie kaum die Bäume vor dem Wohnzimmerfenster erkennen kann, als ein Blitz die Szene in gespenstisches Licht tauscht. Der darauffolgende Donner hallt so ohrenbetäubend, dass er für einen Augenblick das Brausen des Regens und das Knarzen der alten Holzstufen überdeckt. Ohne die Lampen einzuschalten, kontrolliert sie alle Fenster und die beiden Türen des Erdgeschosses, als Blitze die Räume in immer rascherer Folge in gleißende Helligkeit tauchen. Sie kehrt ins Wohnzimmer zurück und starrt in die dunkle Nacht hinaus. Ihre Augen sind vor Schreck weit aufgerissenen. Ein naher Blitz erhellt erneut das Zimmer für einen Bruchteil von Sekunden, bevor unmittelbar danach ein lauter Donner durch den Wald rollt. Zuerst denkt sie, sich getäuscht zu haben, doch dann sieht sie sie. Grün und rot. Gestalten, die im dichten Regen noch geisterhafter erscheinen. Sie blinzelt mehrmals und hält den Atem an. Nein, sie täuscht sich nicht. Die Geister sind wieder da, kommen näher. Nicht so nahe wie sonst. Nicht bis ans Fenster, sondern verharren am Gartenzaun.
Das Heulen des Sturms und die Donnerschläge des Gewitters überdecken inzwischen sämtliche andere Geräusche.
Noch einmal schließt sie kurz die Augen und hält das Messer erhoben vor dem Körper. Ein Blitz, ein lauter Donner, plötzlich sind die Geister verschwunden. Sie wartet minutenlang, wagt es kaum, zu atmen. Die Hand, die noch immer krampfhaft den Griff des Messers umklammert, schmerzt. Nichts. Die Gestalten scheinen sich in Luft aufgelöst zu haben. Hat sie sich womöglich alles nur eingebildet? Es kostet ihr unendliche Mühe, den Blick vom Fenster abzuwenden und mit schweren Schritten in die Küche zu schlurfen. Sie hat heute bereits die Medikamente genommen. Glaubt sie. Doch sie will kein Risiko eingehen. Wenn es besonders schlimm ist und nur dann soll sie eine weitere Tablette nehmen. Der Arzt hatte sie gewarnt, eindringlich an die möglichen Nebenwirkungen erinnert. Die Hände zittern, als sie zwei weiße Pillen auf die Handfläche schüttet und sie mit einem Glas Wasser hinunter spült. Fast hätte sie sich verschluckt. Ihre Kehle scheint heute wie zugeschnürt.
Was soll sie tun? Jemanden anrufen? Die Polizei? Nein. Vielleicht ihre Enkelin Birgit? Aber wie soll sie ihr helfen? Bei diesem Unwetter kann sie es nicht verantworten, dass Birgit zu ihr kommt, selbst wenn sie das Auto nehmen würde. So oft hatte sie schon mit dem Gedanken gespielt, Hilfe zu holen. Aber wenn sie sich tatsächlich alles nur einbildet? Womöglich würde man sie für geisteskrank halten und in ein Heim einweisen. Das könnte sie nicht ertragen.
Ihr Puls rast, als sie mit den Händen an der Wand entlang tastend langsam ins Wohnzimmer zurück schleicht. Schritt für Schritt kommt sie dem großen Fenster näher. Der Regen hat geringfügig nachgelassen. Mit einem Mal bildet sich wieder dichter Nebel. Und mit dem Nebel kommen die Geister, das weiß sie inzwischen nur allzu gut. Ihrer Kehle entweicht ein röchelnder Schrei, noch bevor die grün schimmernde Gestalt vor dem Fenster erscheint. Diesmal hört sie das Wimmern von draußen ganz deutlich, trotz des Windes und Regens. Sie stöhnt, weicht zurück, bis sie mit den Kniekehlen an den Sessel stößt und fast hinein fällt. Zu dem grünen Geist gesellt sich rasch auch ein roter. Ganz nahe vor der Scheibe bewegen sie sich jetzt. Ruth wimmert und merkt nicht, wie ihr Tränen über die Wangen laufen. Als es nachdrücklich an der Tür klopft, schreit sie kurz auf.
Schmerzen, diese fürchterlichen Schmerzen. Sie lässt das Messer fallen, greift sich mit beiden Händen an die Brust und krümmt sich. Sie bekommt keine Luft mehr. Als würde sie jemand mit eisernem Griff umklammern. Sie reißt die Augen weit auf und breitet die Arme aus, so als wolle sie sich Luft zu fächern. Luft, die den Lungen fehlt. Ihr wird schwarz vor Augen, die Kehle brennt. Sie röchelt. Immer mehr Luft entweicht den Lungen, doch sie ist unfähig einzuatmen. Noch einmal überfallen sie grässliche Schmerzen. Es brennt, als stünde der ganze Brustkorb lichterloh in Flammen. Sie versucht aufzustehen. Vielleicht würden ihr die Geister zu Hilfe eilen? Am Ende wollen sie sie nur beschützen und nicht erschrecken.
Es sind die letzten verzweifelten Gedanken, die sie noch klar fassen kann. Und plötzlich ist alles vorbei. Schwärze umfängt sie und lässt sie sachte zu Boden sinken. Zusammengekrümmt wie ein großes Bündel achtlos dahin geworfener Kleider, liegt sie vor dem alten Sessel. Die schreckgeweiteten Augen starren an die Zimmerdecke, während die rechte Hand langsam über die Klinge des Messers gleitet. Ein dünnes Rinnsal Blut benetzt den Teppich. Nicht viel, denn Ruths Herz hat schon vor einer halben Minute aufgehört zu schlagen. Die Geister klopfen erneut an die Haustür, doch die alte Frau kann sie nicht mehr hören. Und vielleicht ist es sogar besser so.
Geister? Na ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Aber es klingt so plausibel...